Der Moment der Erkenntnis von aroessler2003
Der Moment der Erkenntnis von aroessler2003

Hell fiel das Sonnenlicht durch das große Fenster in die Hotellobby, in der gerade nicht sehr viel los war. Die Lobby war sehr modern eingerichtet. An der Rezeption standen zwei Empfangsdamen. Eine von beiden arbeitete gerade am Rechner, während ihre Kollegin gerade mit jemandem telefonierte. Beide Frauen trug ihre vorschriftsmäßige Dienstkleidung. Die kleinere der beiden Frauen hatte kurzes blondes Haar, während die größere ihre roten Haare zu einen geflochtenen Zopf zusammen gebunden hatte, was ihr Gesicht etwas strenger erscheinen ließ. Sie sprach recht leise.

 

An einen der vier Tische saß ein junger Geschäftsmann vor seinem Notebook und tippte dort etwas ein. Er trug einen teuren Nadelstreifenanzug. Die Krawatte saß akkurat und das Oberhemd war makellos. Das Jackett des Anzugs hing über der Sofalehne. Die Miene des Mannes verriet deutlich seine Konzentration. Sein Handy lag direkt neben seinem Laptop.

 

An einem anderen Tisch saß eine junge Frau, die gerade Ende zwanzig war. Sie trank eine Tasse Kaffee. Ihre langen lockigen Haare trug sie offen. Sie reichten ihr weit über ihre Hüften herunter. Ihre Kleidung war sehr ordentlich und alles passte perfekt zusammen. Sie trug eine dunkelblaue Hose, eine weiße Bluse, die seidig glänzte und darüber ein dunkelblaues Jackett Ihre Schuhe waren schwarz. Die Kleidung lang eng an und betonte ihre sportliche Figur. Zusätzlich trug sie eine moderne dunkle Sonnenbrille, deren Oberfläche wie Spiegel waren. Ihre kleine weinrote Lederhandtasche lag auf dem Tisch. Sie konnte von ihrem Platz aus sehr gut die Rezeption und die Lifttüren sehen. Sie griff nach der Tasse und nahm einen weiteren Schluck. Fast lautlos stellte sie die leere Tasse wieder ab.

 

Immer wieder sah sie zu den Lifttüren rüber, wenn sich eine von ihnen öffnete und jemand einen der Aufzüge verließ oder betrat. Als sie einen älteren Herren mit Halbglatze in einem grauen Anzug erblickte, entspannte sie sich wieder. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Umständlich rückte er seine dünne Nickelbrille zurecht, als er zur Rezeption schritt und die beiden Damen ansprach. Seinen schwarzen Aktenkoffer stellte er neben sich auf den Boden ab. Er war nicht die Person, auf die die braunhaarige Frau wartete.

 

Natalja Brinkmann holte ihr Handy aus der Handtasche und klappte es auf. Nur einen kurzen Moment später klappte sie es wieder zu, steckte es ein und sah erneut zu den Lifttüren hin. Sie bemerkte den interessierten Blick des jungen Geschäftsmannes am Nebentisch nicht.

 

Sie sah aus dem Fenster und beobachtete den Verkehr. Ein Linienbus fuhr vorüber. Mehrere Fußgänger gingen und Radfahrer fuhren an dem Hotel vorbei, doch Natalja interessierte sich nicht sonderlich für den Verkehr auf der Straße. Ihr Interesse galt mehr den Häusern, die gegenüber des Hotels standen. Besonders aufmerksam betrachtete sie ein rotes Haus, das mehrere Stockwerke hoch war. Als ihr Blick das Dach streifte, sah sie dort etwas mehrfach und in unregelmäßigen Abständen aufblitzen. Einen Moment später sah sie wieder zu den Aufzügen hinüber, als dort eine Lufttür aufging. Der junge Geschäftsmann, der noch vor wenigen Augenblicken am Nebentisch in der Lobby saß, betrat gerade die Kabine. Leise schlossen sich die beiden Türhälften wieder.

 

Ein Wagen hielt vor dem Hoteleingang und eine ältere Dame stieg aus. Sie trug ein dunkelgrünes Kostüm, das ihre Figur nicht gerade vorteilhaft zur Geltung brachte. Der Taxifahrer lud ihr Gepäck aus und fuhr nachdem sie ihn bezahlt hatte, wieder davon. Natalja beachtete sie nicht weiter, als die Frau das Hotel betrat.

 

Erneut öffnete sich wieder eine Lifttür und ein Paar in mittleren Jahren verließ den Aufzug. Die Frau hatte schwarze schulterlange Haare. Sie trug eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover, der mit zahlreichen Pailletten verziert war. Der weiße Kragen ihrer Bluse ragte aus dem Pullover heraus und lag eng an. Mehrere Halsketten glänzten silbern. Über ihren Arm hing eine dünne schwarze Jacke, deren Knöpfe ebenfalls glänzten. Die Kleidung betonte die Figur der Frau, die etwas stabiler gebaut war. Ihre Schultern verrieten Natalja, da sie recht kräftig sein musste. Sie sah recht wohlhabend aus, was auch für ihren Begleiter galt. Natalja fand, dass sie sehr stilvoll gekleidet war. Der etwas ältere Mann an ihrer Seite trug einen dunkelgrauen Anzug. Sein Haar war grau und bereits etwas schütter. Er war einen halben Kopf größer als die schwarzhaarige Frau und hatte einen leichten Bauchansatz, den seine Kleidung nicht ausreichend kaschieren konnte. Direkt vor dem Lift waren sie stehen geblieben und sie sprachen leise miteinander. Niemand konnte verstehen, was sie zu einander sagten. Er sah sie sehr intensiv an und sie erwiderte seinen Blick mit derselben Intensivität. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und lächelte. Beide sahen sich an und ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte zurück. Deutlich war das Funkeln in ihren Augen zu sehen, als sie den Mann ansah. Natalja griff entschlossen nach ihrer Handtasche und stand auf. Das Warten hatte nun ein Ende.

 

Das Paar setzte sich wieder in Bewegung ging direkt an die Rezeption. „Ich hoffe, dass der Wagen schon da ist, damit wir rechtzeitig zum Meeting kommen.“, meinte der ältere Mann zu der Schwarzhaarigen, „Aber ich frage lieber nach.“ Lächelnd trat die blonde Hotelangestellte an den Tresen und fragte, was sie für die beiden denn tun könnte. Der Mann brachte sein Anliegen vor. Dabei sprach er mit einer sehr angenehmen Stimme. „Der Wagen müsste in Kürze hier ein, um Sie abzuholen. Wenn Sie möchten, können Sie entweder in der Lobby oder auch draußen vor der Tür warten.“, teilte sie den beiden mit einem freundlichen Lächeln mit. Der Mann warf seiner Begleiterin einen kurzen Blick zu. Sie nickte nur wortlos. „Nein, ich denke, wir warten draußen.“, sagte er und das Paar schritt entschlossen zum Hotelausgang.

 

Wenige Meter vor der Doppeltür hielt Natalja die Beiden an. „Wenn Sie Señora Ana Lucía Rodriguez sind, würde ich dieses Hotel nicht durch den Haupteingang verlassen.“, sagte die Braunhaarige entschieden zu der Schwarzhaarigen. Die Angesprochene blieb mit ihrem Begleiter zusammen stehen und sahen die junge Frau verständnislos an. „Was soll das heißen?“, wollte sie wissen, „Was wollen Sie von mir und wer sind Sie denn überhaupt?“ „Wer ich bin, tut im Moment nichts zur Sache.“, antwortete die Braunhaarige mit fester Stimme, „Ich bin hier um jemandem retten.“ Das Paar sah Natalja voller Zweifel an. „Sehen Sie von der Lobby aus dem Fenster auf das rote Gebäude gegenüber. Oben auf dem Dach werden Sie sehen, das dort etwas in unregelmäßigen Abständen blinkt.“, mahnte die kleine Frau eindringlich. Sofort setzte sich die Schwarzhaarige in Bewegung, doch Natalja hielt sie entschlossen am Arm fest. „Nein, Sie sehen dort nicht nach.“, sagte die Braunhaarige entschieden und deutete mit dem Kopf den grauhaarigen Mann, „Er kann für Sie aus dem Fenster schauen.“, entschied Natalja. Der Mann sah Ana Lucía fragend an. Diese nickte wortlos. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Wenig später kehrte er zu den beiden Frauen zurück. Ana Lucía sah ihm sofort an, dass er der Fremden glaubte.

 

„Ich habe da oben tatsächlich etwas unregelmäßig blinken sehen, wie sie es eben sagte.“, gestand er seiner Begleiterin. „Es ist besser, wir nehmen den Hinterausgang.“, schlug Natalja vor und sah die Beiden mit ernster Miene an. Beide nickten. „Kommen Sie.“, forderte die Braunhaarige das Paar auf und ging los, „Hinten auf dem Parkplatz steht mein Wagen. Sie wollten ja sowieso zu Ihrem Meeting oder nicht?“ Ana Lucía und ihr Begleiter bejahten unisono und folgten ihr.

 

Mit schnellen Schritten ging Natalja mit dem Paar zusammen einen Nebengang entlang, der zum Personaleingang führte. Wenig später verließ die Braunhaarige das Gebäude. Das Paar blieb kurz an der Tür stehen. „Kommen Sie ruhig.“, sagte die junge Frau, die schnurstracks auf einen dunklen Van mit getönten Fensterscheiben zuging. Sofort folgten ihr Ana Lucía und der Mann der Unbekannten zum Van. Natalja öffnete die hintere Tür und machte eine einladende Handbewegung. Als sie dabei das Paar ansah, reflektierte ihre Brille das grelle Sonnenlicht. „Steigen Sie ein.“, forderte sie die beiden auf. Diese sahen sie kurz leicht zweifelnd an, kamen aber ihrer Aufforderung nach. „Schnallen Sie sich bitte an. Die Fahrt könnte unter Umständen etwas holperig werden.“, sagte die Braunhaarige und schloss mit einem kräftigen Ruck die Schiebetür des Vans. Wortlos folgten Ana Lucía und der grauhaarige Mann der Anweisung. Inzwischen war auch Natalja eingestiegen und schaute kurz in den Rückspiegel. Zufrieden stellte sie fest, dass sich das Paar tatsächlich angeschnallt hatte. Nachdem sie sich selbst einen Sicherheitsgurt umgelegt hatte, startete sie den Motor. Wenig später fuhr der Van los und fädelte sich rasch in dem Verkehr Sevillas ein.

 

Eine Zeitlang schwiegen alle im Wagen. Nur der Motor war leise zu hören. Aufmerksam sahen die beiden aus dem Fenster. Beide erkannten den Flughafen, an dem sie mit recht hoher Geschwindigkeit vorbeifuhren. „Wo fahren wir denn hin?“, wollte der Mann wissen, „Sie fahren ja komplett in die falsche Richtung. Wir müssen doch weiter in die Stadt hinein, aber Sie fahren ja aus der Stadt raus. So werden wir auf gar keinen Fall rechtzeitig zum Meeting in der Firma eintreffen.“ Die Frau am Steuer blickte kurz in den Rückspiegel. „Paco hat Recht.“, meinte Ana Lucía mit ernster Miene, „Also wohin bringen Sie uns?“ „Ich bringe Sie aus der Stadt raus.“, antwortete Natalja sachlich und wahrheitsgemäß. „Und wohin genau?“, wollte Paco wissen. „An einen Ort, wo er Sie nicht finden kann.“, lautete die Antwort der Braunhaarigen am Steuer und erhöhte dabei weiter die Geschwindigkeit. „Wer ist er?“, erkundigte sich Rodriguez neugierig. „Derjenige, der Ihnen nach dem Leben trachtet.“, antwortete Natalja ungerührt und beobachtete das Paar im Rückspiegel. Deutlich sah sie, wie beide erschrocken zusammenzuckten und blass wurden.

 

„Aber wer soll uns denn nach dem Leben trachten?“, erkundigte sich die Schwarzhaarige, die sich nach einigen Momenten wieder gefasst hatte. Erneut sah Natalja in den Spiegel. Der Blick von Ana Lucía Rodriguez verriet ihr, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es jemand gäben könnte, der ihren Tod wollte. „Die Antwort auf Ihre Frage sollten Sie wohl selbst am besten kennen.“, gab die Frau am Steuer kühl zurück, „Denken Sie mal in aller Ruhe nach, wer Ihnen wohl nach dem Leben trachten könnte.“ Ana Lucía runzelte nachdenklich die Stirn, währenddessen Paco sie interessiert ansah. Als Rodriguez nachdenklich schwieg, blickte er nach vorne. Weil die Frau am Steuer eine Sonnenbrille trug, konnte er im Rückspiegel nicht erkennen, was sie dachte. Ihre Miene war unbewegt.

 

„Was hat das zu bedeuten, Ana?“, fragte er die Schwarzhaarige und sah sie dabei direkt an. Die Frau neben ihm schaute stur geradeaus und schwieg weiterhin. Deutlich konnte er Ana Lucía ansehen, wie sehr sie sich den Kopf darüber zerbrach, wen die Braunhaarige meinen könnte. „Wovon redet sie?“, hakte er nach. Als er keine Antwort erhielt, seufzte er und wandte sich von seiner Begleiterin ab. Er fühlte, wie er von einer innerlichen Unruhe gepackt wurde. Irgendetwas stimmte nicht. Das fühlte er. Im Seitenfenster konnte Paco die Silhouette Ana Lucías erkennen, die nachdenklich schwieg. Paco hatte das Gefühl, dass sie vor ihm etwas verheimlichte. Irgendetwas musste passiert sein, womit sie etwas zu tun hatte und es musste etwas recht Schlimmes gewesen sein, sonst würde niemand nach ihrem und seinem Leben trachten. Paco fragte sich, warum derjenige sie beide töten wollte.

 

„Trachtet wirklich jemand nach unserem Leben?“, fragte er Natalja, die sich auf den Straßenverkehr konzentrierte. „Sie haben doch selbst das unregelmäßige Blinken auf dem Dach des Hause gesehen, das sich gegenüber von Ihrem Hotel befindet oder nicht?“, gab die Frau zurück. Paco bejahte sofort. „Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte?“, fragte sie das Paar ungerührt. Beide verneinten. „Das war ein Scharfschütze, der nur auf Sie wartete.“, antwortete Natalja sachlich, „Besser gesagt, hatte dieser Kerl in erster Linie auf Señora Rodriguez gewartet.“ „Ein Scharfschütze?“, entfuhr es Ana Lucía, die es nicht glauben konnte, was sie gerade von der unbekannten Frau gehört hatte. „Woher wissen Sie das?“, wollte Paco wissen, der genauso wie seine Begleiterin totenbleich geworden war. „Ich weiß das nur deshalb, weil ich das Tatmotiv und den Schützen auf dem Dach verdammt gut kenne. Er ist Gott sei Dank ein absoluter Laie. Wäre er ein Profi, hätte ich ihn dort oben nie wahrgenommen. Was vom Dach aus blinkte war das Zielfernrohr einer Waffe, die er auf den Eingang des Hotels gerichtet hatte.“, erklärte Natalja kühl. „Und weil Sie wussten, dass er da oben auf uns wartete, griffen Sie ein, um uns das Leben zu retten.“, schlussfolgerte eine leichenblasse Ana Lucía. Beide sahen zu der Fahrerin hin, die aber schwieg.

 

Natalja verringerte die Geschwindigkeit und verließ nach einigen Minuten die Autobahn. Sie fuhr auf einer anderen Schnellstraße weiter, bis sie in einen Feldweg abbog. Sie fuhr immer noch recht schnell und die Insassen wurden dabei recht kräftig durchgeschüttelt. Schweigend beobachtete das Paar, wie die Braunhaarige den Feldweg entlang fuhr. Anscheinend wusste die Fremde ganz genau, wohin sie fahren wollte. Sie fuhr durch ein kleines Wäldchen und erreichte zwischen zahlreichen Hügeln einen schmalen Feldweg, in den sie sofort einbog. Ein Schild wies darauf hin, dass dieser Weg zu einem Sperrgebiet gehörte, was aber der Unbekannten nicht zu interessieren schien. Den verschlossenen Zaun durchbrach sie einfach und setzte ungerührt ihren Weg fort. Fassungslos und ein wenig beunruhigt sahen sich Ana Lucía und Paco einander an. Ihre Blicke trafen sich und beide wussten, dass beide dasselbe dachten und empfanden. Sie fühlten beide, wie langsam Furcht in ihnen aufkam.

 

Entschlossen holte Rodriguez ihr Handy aus der Handtasche und klappte es auf. Doch bevor sie auf Display sah, hörte sie bereits Nataljas Worte, die ihr wie Peitschenhiebe vorkamen: „Versuchen Sie gar nicht erst Ihr Handy zu benutzen. Solange Sie sich in diesem Wagen befinden, haben Sie keinen Empfang.“ Auch der Mann hatte sein Handy rausgeholt und eingeschaltet. Auch Paco fand, dass die Worte der Braunhaarigen sehr kalt und abweisend klangen. Resignierend klappte die Schwarzhaarige das Handy wieder zu und steckte es ein. Paco tat es Ana Lucía gleich und sah sie an. Sie erwiderte seinen Blick, der ihr verriet, dass er inzwischen etwas beunruhigt über die jetzige Situation war. Im nächsten Augenblick waren sie von völliger Dunkelheit umgeben. Sofort sah das Paar aus dem Van hinaus, doch es war nichts zu sehen. Es dauerte noch einige Minuten, bis die Fahrt zu Ende war.

 

Das ältere Paar sah, wie die junge Frau aus dem Wagen stieg und die Tür zuknallte. Beide hörten die Schritte der Fremden. Plötzlich wurde die Seitentür aufgerissen. Obwohl beide schon darauf gewartet hatten, dass sie nun aussteigen können, zuckten sie doch ein wenig zusammen. „Wir sind am Ziel. Sie können jetzt aussteigen.“, teilte Natalja den beiden mit. Sie trat einen Schritt zurück und sah zu, wie zuerst Rodriguez ausstieg und anschließend ihr Begleiter.

 

Neugierig blickten sich die Beiden um. Weder Paco noch Ana Lucía wussten, wo sie waren. Für beide stand nur eines fest: Die Fremde hatte sie an einen Ort gebracht, der sich weit außerhalb der Stadt befand. An Flucht war, falls es soweit kommen sollte, nicht zu denken. In regelmäßigen Abständen verteilen Neonröhren ihr kaltes Licht. Es war ein Tunnel, der ihnen endlos lang vorkam. Vom Tageslicht am Ende des Tunnels war nichts zu sehen. Die Luft roch abgestanden und muffig und es war feucht. Natalja schloss den Van ab. Über ihre Schulter hing eine kleine Notebooktasche. „Kommen Sie mit.“, forderte die kleine zierliche Frau das Paar auf und schritt rasch davon. Paco und Ana Lucía folgten ihr.

 

Nach wenigen Metern blieb sie vor einer Stahltür stehen. Geschickt betätigte sie den kleinen Hebel an der Tür. Im nächsten Augenblick schwang sie nach innen auf und Natalja betrat den Raum. Licht flammte auf und etwas zögernd folgte ihr das ältere Paar. Die Braunhaarige ging direkt zu einem Tisch, der mitten in dem großen Raum stand. Dort legte sie behutsam die kleine Tasche mit dem Laptop ab. Ihre Schritte hallten laut durch den fast leeren Raum, als sie wieder zur Tür schritt. „Nehmen Sie dort drüben Platz.“, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf zwei leere Stühle, die etwas weiter entfernt vom Tisch standen. Paco und Ana Lucía kamen der Aufforderung nach. Während die beiden auf den Stühlen Platz nahmen, kehrte Natalja wieder an den Tisch zurück. Die Braunhaarige sah die beiden prüfend an. Obwohl sie eine Sonnenbrille trug, wurde dem grauhaarigen Mann und der schwarzhaarigen Frau etwas unbehaglich zumute.

 

„Nun, Señora Rodriguez. Ist Ihnen nun vielleicht jemand eingefallen, der nicht gut auf Sie zu sprechen sein könnte?“, wollte die Braunhaarige wissen, während sie das Notebook hochfahren ließ. Ana sah die Fremde direkt an, als sie antwortete. „Offen gestanden nein.“, gab sie zu. „Das ist sehr schade. Ich dachte, Sie kämen von ganz alleine drauf.“, meinte Natalja kühl, „Also habe ich keine andere Wahl, als Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge zu helfen.“ Sie startete ein Programm und drehte den kleinen Rechner zu dem Paar um. Beide sahen gespannt auf den Monitor. Ana Lucías Miene blieb ausdruckslos, aber in ihrem Blick konnte Natalja deutlich erkennen, dass die Schwarzhaarige jenen Mann, der nun auf dem Bildschirm zu sehen war, wiedererkannte. Die Braunhaarige lächelte kalt. „Ich sehe, Sie haben ihn erkannt.“

 

Paco sah erst auf den Monitor, dann Rodriguez an. Seine Mimik verriet Natalja, was er dachte. Er war verwirrt, verunsichert und auch ein wenig überrascht. Ana Lucía wandte sich dem Grauhaarigen zu. Ihre Blicke trafen sich. „Anscheinend kennst du diesen Mann auf dem Bild tatsächlich.“, konstatierte er in einem neutralen Tonfall, als er in ihre braunen Augen sah. Sie nickte zögerlich. „Ja, ich kenne ihn. Er heißt Thomas Schmidt. Ich habe ihn zufällig im Netz gefunden.“, sagte sie tonlos. „Und du hattest eine Beziehung mit ihm.“, fuhr der Grauhaarige fort. Ana Lucía schluckte und nickte dann. „Ja, bis sie ihn Ihretwegen nach wenigen Monaten wieder verließ.“, hörten die Beiden Natalja vom Tisch her sagen. Ihre Stimme klang kalt und vorwurfsvoll. Ana Lucía blickte die Frau am Tisch finster an. Unbeschreibliche Wut kroch in ihr hoch. In ihren Augen funkelte es böse.

 

„Was geht Sie das denn eigentlich an, wann ich mit wem zusammen war oder nicht?“, fragte die Schwarzhaarige mit leicht bebender Stimme. Natalja betrachtete schweigend die ältere Frau mit eisigem Blick. Ana Lucía stand auf und ballte ihre Hände zu Fäuste. „Wer sind Sie denn überhaupt, dass Sie sich das Recht herausnehmen, in mein Leben herumzuschnüffeln und sich einzumischen?“, schrie sie zornig die Braunhaarige an, „Nehmen Sie Ihre verdammte Brille ab und dann antworten Sie gefälligst!“ Ihre Stimme klang schrill und überschlug sich. Ana Lucía wollte auf die junge Frau am Tisch losstürmen und sie mit ihren Fäusten auf sie einschlagen, als Paco sie rasch am Handgelenk packte und sie festhielt. Sie wandte sich zu dem Grauhaarigen um und sah ihn direkt an. Ihr Gesicht war eine wutverzerrte Grimasse und grenzenloser Zorn glitzerte in ihren Augen.

 

„Lass mich los!“, zischte sie wütend und versuchte sich von ihm loszureißen. „Nein.“, antwortete der Mann entschlossen, wobei sein Griff etwas fester wurde, „So langsam finde ich, dass du mir erklären solltest, was hier eigentlich gespielt wird.“ Die Schwarzhaarige hielt inne und sah den Mann wortlos an. Ihre Nasenflügel blähten. „Beruhige dich erst mal wieder.“, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, „Und dann erzählst du mir, was eigentlich los ist.“ Paco sah der Frau tief in die Augen. Deutlich fühlte er, wie die Anspannung aus ihrem kräftigen Körper wich. Kraftlos sank sie auf den Stuhl.

 

Natalja beobachtete das Paar vom Tisch her schweigend und wartete ab. Paco Valdez setzte sich neben der Schwarzhaarigen und sah sie wortlos an. Sie sah ihn kurz ins Gesicht, konnte aber nicht erkennen, was er dachte. Ana Lucía schüttelte langsam mit dem Kopf. Ihre schulterlangen Haare hingen etwas unordentlich herab. „Ich kann nicht.“, flüsterte sie.

 

„Wenn Sie es nicht können, dann werde ich Ihnen alles erzählen.“, sagte Natalja entschlossen. „Nehmen Sie die verdammte Brille ab, wenn Sie mit mir reden!“, fauchte die Schwarzhaarige die junge Frau am Tisch an. „Das halte ich für keine gute Idee.“, erwiderte Natalja kühl. Das Paar sah sie verständnislos an. Paco stand auf und sah die junge Frau an. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie sie abnehmen.“, meinte er in einem ruhigen Tonfall. „Ja, nehmen Sie sie ab und zeigen uns das, was Sie uns auf Ihrem Rechner zeigen wollen.“, sagte Ana Lucía und blickte dabei Natalja direkt an.

 

Die Braunhaarige seufzte kurz, nickte aber dann. „Also gut. Wie Sie wünschen.“, sagte sie und nahm ihre Brille ab. Mit einen raschen Tastendruck aktivierte sie eine Videosequenz, die Paco und Ana Lucía gemeinsam ansahen. Schweigend beobachtete die Braunhaarige das ältere Paar, während sie das Video komplett ansahen. Ana Lucía wurde immer blasser und ihr Blick hing wie gefesselt an dem Monitor. Dem grauhaarigen Mann erging es nicht anders. Auch er verfolgte die Aufzeichnung mit großem Interesse.

 

Eine Stunde später lehnten sich beide zurück und schwiegen einen Augenblick lang. Paco verstand nun, warum Thomas Schmidt Ana Lucía und auch nach seinem Leben trachtete. Gleichzeitig war er auch entsetzt, was er über die schwarzhaarige Frau erfahren musste, die neben ihm saß. Paco hatte schon eine längere Zeit über das Gefühl gehabt, dass sie ihm gegenüber etwas verheimlichte. Aber er wusste nicht, was es war, das sie verschwieg. Jetzt kannte er ihr Geheimnis und das gefiel ihm gar nicht.

 

„Ich kann das nicht glauben, was ich da eben gesehen habe.“, gestand er fassungslos und sah dabei die Frau neben sich an. Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn unverwandt an. „Es tut mir Leid, Paco.“, sagte sie leise. „Das reicht leider nicht, Ana Lucía.“, antwortete er leise. Deutlich hörte sie die Enttäuschung heraus, die er empfand. Er machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach. „Ich weiß zwar nicht, warum du das gemacht hast.“, fuhr er fort, „Aber dir hätte doch klar sein müssen, dass du irgendwann mal an den Falschen gerätst.“ Er schaute sie traurig an. „Wenn der uns findet, bringt er uns beide um.“, sagte er mit leicht zitternder Stimme. Sie nickte. „Ja, ich weiß.“, gestand sie, „Aber ich hätte nie gedacht, das ausgerechnet er derjenige sein würde, der mich jetzt tot sehen will.“

 

„Sie haben ihm sehr weh getan.“, hörte sie Natalja vom Tisch her sagen, wobei ihre Stimme eisig klang. Beide sahen die junge Frau an und erschraken zutiefst, als ihr Blick die Tischplatte streifte. Die zierliche Frau hatte inzwischen ihr Jackett ausgezogen und auf dem Tisch gelegt. Es war aber nicht das ausgezogene Jackett und auch nicht der Schulterhalfter, den die Braunhaarige über ihrer weißen Bluse trug, was beide entsetzt ansahen. Es war der Revolver, der direkt vor Natalja auf dem Tisch lag.

 

„Er meinte es ehrlich mit Ihnen, meine Liebe. Er liebte Sie sehr und wollte Sie heiraten, obwohl er fünfzehn Jahre jünger ist als Sie. Aber Sie machten mit ihm Schluss. Sie schrieben ihm, dass Sie während Ihrer gemeinsamen Beziehung die ganze Zeit über einen anderen Mann liebten und ihn in Kürze ehelichen wollten. Für Thomas brach eine Welt zusammen und Sie brachen ihm so sein Herz.“, fuhr die Braunhaarige eisiger Stimme fort und griff nun nach der Waffe.

 

Angst flackerte in den Augen des älteren Paares auf, als Natalja die Waffe in der Hand behielt. „Was haben Sie vor?“, wollte Rodriguez wissen, „Ich dachte, Sie wollen jemandem das Leben retten.“ Die Stimme der Schwarzhaarigen zitterte leicht. „Das tue ich auch.“, erwiderte die Braunhaarige entschieden. Paco sah in Nataljas grüne Augen und begriff, was sie meinte. „Verdammt.“, sagte er heiser und schluckte, „Sie lieben diesen Mann, der uns umbringen will. Sein Leben wollen Sie retten, indem Sie uns ins Jenseits befördern, damit er es nicht tun kann und deswegen dann auch nicht ins Gefängnis muss.“ Die Schwarzhaarige sah kurz Paco an und dann wieder die bewaffnete Frau, die nun das Paar kalt anlächelte. „Sie sind ein kluger Mann.“, sagte Natalja, „Ja, ich liebe Thomas und deshalb mache ich jetzt das, was er eigentlich mit Ihnen beiden sehr gern tun würde.“ Entschlossen zog sie den Stecher durch. Der Schuss peitschte durch den Raum. Tödlich getroffen sackte der Grauhaarige zusammen. Ana Lucía schrie gellend auf, als sie ihren Verlobten tot am Boden liegen sah. Doch bevor sie noch reagieren konnte, zielte Natalja auf die ältere Frau und schoss erneut. Ana Lucía Rodriguez war bereits tot, als ihr Körper auf dem Boden aufschlug.

 

Nach ihrer blutigen Tat steckte sie den Revolver wieder in den Halfter. Mit einer raschen Tastenkombination schloss sie die laufenden Programme auf dem Laptop und fuhr das System runter. Anschließend verstaute sie das Notebook in die Laptoptasche. Nachdem sie damit fertig war, schritt sie zu den beiden Toten hin und blickte auf die beiden herab, die nun im Tode für immer vereint waren. Natalja lächelte eisig. Das hast du nun davon, dass du mir Thomas genommen hast. Dafür habe ich dir nun dein Leben und das deines Verlobten genommen. Du wirst nie wieder einen anderen Mann das Herz so brechen, wie du es bei Thomas getan hast!, dachte sie. Mit raschen Schritten verließ sie den fast leeren Raum. Es klickte leise, als sie das Licht ausschaltete. Die Tür fiel laut ins Schloss und wurde von außen wieder verriegelt.

 

Natalja stieg rasch in den Van und schnallte sich an. Nachdenklich blickte sie aus der Frontscheibe. Es war still, sehr still sogar. Die junge Frau empfand diese Stille als sehr unangenehm, als sehr erdrückend. Den Grund kannte sie nicht. Sie zuckte kurz mit den Schultern. Entschlossen startete sie den Motor und fuhr mit sehr hoher Geschwindigkeit davon.

 

ENDE



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