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Shimar hatte immer noch nicht herausgefunden, was der Grund dafür war, dass er Brako nicht finden konnte, aber aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Endlich wurde er einer jungen Tindaranerin ansichtig, die vorbeiging. Er erkannte sie. Es war seine Schwester Shinell, die hier war, seitdem sie bei einer Mission ums Leben gekommen war. Wie er war sie auch Patrouillenfliegerin gewesen. „Warte, Shinell.“, rief er ihr auf Tindaranisch zu und versuchte sie mit großen Schritten einzuholen, was ihm auch gelang. Sie aber drehte sich nur um und sah abschätzig auf sein rechtes Handgelenk, bevor sie antwortete: „Was willst du hier, Besucher!“ „Erkennst du mich nicht?“, fragte Shimar. „Ich bin es, dein kleiner Bruder. Ich muss wissen, wo ich Brako von Miray …“

Er fühlte eine telekinetische Einwirkung, die ihn umwarf. Sich aufzurichten vermochte er nicht. „Du wirst ihn in dieser Welt nicht finden, Besucher!“, schrie sie ihm noch hinterher, bevor sie ging und ihn wieder frei gab. Mühsam stand Shimar auf. „Da hat sie mir doch tatsächlich einen Tipp gegeben, ohne es zu wollen.“, sagte er. „Wenn nicht in dieser Welt, dann vielleicht in einer anderen. Anscheinend ist hier alles wie ein Universum aufgebaut. Wo bist du, wenn ich dich brauche, IDUSA?“

Kaum hatte er ausgesprochen, da hörte Shimar das wohl bekannte Geräusch von tindaranischen Atmosphärentriebwerken über sich. Das Geräusch kam schnell näher und schwenkte nach einer Weile nach links. Dann sah er tatsächlich IDUSA neben sich landen. Einladend öffnete sie die Luke und gab ihm über den Bordlautsprecher zu verstehen: „Steigen Sie ein, Shimar. Ich werde Sie zu König Brako bringen.“

Wie vom Schlag getroffen stand Shimar da und brachte es nicht fertig, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Das kann nicht sein!“, sagte er schließlich mit noch vor Staunen halb offenem Mund. „Du bist ein Stück Technologie. Du kannst nicht hier her kommen. Du musst ein Trugbild von Sytania sein. Ich habe kurz ihre Anwesenheit gespürt.“

Endlich war es ihm gelungen, sich aus seiner Erstarrung zu lösen! Er drehte sich in die andere Richtung und lief los. IDUSA startete, blieb aber nur wenige Zentimeter über dem Boden. Dann flog sie so neben ihm her. „Lasst mich in Ruhe, Sytania!“, forderte Shimar. „Ich werde auf Euer Spiel nicht hereinfallen! Ihr werdet mich nicht davon abbringen, König Brako zu finden.“ „Shimar.“, redete der Schiffsavatar weiterhin auf ihn ein. „Bitte überlegen Sie. Denken Sie an die Worte des ersten Offiziers der Granger. Was hat er Ihnen über das Wünschen gesagt? Bitte denken Sie nach. Kann Sytania das wissen? Kann Sie wissen, was Sie mit dem Agent besprochen haben? War sie in Ihrem oder seinem Kopf? Kann sie uns jetzt behelligen, oder schützt das Strickwerk des Allrounders Ihren Körper und somit auch Sie vor ihrem Einfluss? Denken Sie nach!“

IDUSA unterbrach die Live-Schaltung und wendete sich an Mikel. „Agent, Sie müssen mir eine Frage beantworten.“, sagte sie. „Ich bin ganz Ohr.“, antwortete Mikel freundlich. „Wie kann es dazu kommen, dass ich Doppelbilder sehe? Bevor wir einen technischen Fehler meinerseits nicht ausschließen können, sollten wir dies abbrechen und mich Ihrem Ingenieur vorstellen.“ „Was meinst du?“, fragte Mikel. „Was siehst du für Doppelbilder?“ „Ich sehe mich.“, stellte IDUSA fest. „Das macht nichts.“, sagte Mikel. „Es ist alles in Ordnung. Vertrau mir. Du hast ja sicher auch mitbekommen, dass Shimar sich gewünscht hat, dass du bei ihm wärst. Du weißt, dass er sich alles wünschen kann, was er haben will in diesem Zustand. Er hat sich quasi dein höheres Selbst hergewünscht.“ „Definieren Sie höheres Selbst.“, bat IDUSA. „Das kann ich einer Maschine nur schwer begreiflich machen.“, gab Mikel zu. „Aber wenn ich dir sage, dass alles so in Ordnung ist, muss dir das fürs Erste genügen.“ „Also gut.“, sagte IDUSA und fuhr mit der Übertragung fort. „Sie sind der Experte für dies hier und deshalb denke ich, dass Sie schon wissen werden, was richtig und was falsch ist.“

Immer noch flog das Schiff neben Shimar her. „Halten Sie mich immer noch für ein Trugbild?“, fragte sie. „Sie haben doch jetzt genug Zeit zum Nachdenken gehabt. „Wenn du es genau wissen willst.“, sagte Shimar und starrte stur geradeaus. „Ja, ich halte dich immer noch für ein Trugbild. Du kannst nicht …“ „Also schön!“, sagte IDUSA und richtete ihren Transporter auf Shimar aus. „Das haben wir gern.“, sagte sie. „Erst wird man hergewünscht und dann als Trugbild bezeichnet. Ein Trugbild würde aber sicherlich nicht das für Sie tun!“ Damit beamte sie ihn ins Cockpit und schloss die Luke. Dann ging sie in den Steigflug über und verließ die Atmosphäre. Shimar sah sich um und entdeckte tatsächlich seinen persönlichen Neurokoppler. „Glauben Sie mir jetzt?“, fragte das Schiff, nachdem sie registriert hatte, dass er den Koppler aufgesetzt hatte und sie seine Tabelle geladen hatte. Staunend sah Shimar aus dem Fenster. „Das ist ja tatsächlich ein Universum!“, stellte er fest. „Korrekt.“, bestätigte das Schiff. „Genauer würde ich es als Superuniversum definieren, in dem die Planeten aller Universen ein Gegenstück haben. Ich kenne auch den Kurs nach Miray. Meine Sensoren haben König Brako längst aufgespürt. Ich bringe uns hin.“

Sie ging auf Warp und wenig später waren sie in einem weiteren Sonnensystem. Die Anzahl der Planeten und auch die sonstige Struktur des Systems kam Shimar sehr bekannt vor. „Das ist ja tatsächlich Miray!“, staunte er. „Natürlich.“, sagte IDUSA. „Was hätten Sie denn gedacht?“ „Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.“, sagte Shimar. Aber du hast gesagt, du wüsstest, wo der König ist.“ „Korrekt.“, erwiderte das Schiff und setzte in einem großen Schlosspark zur Landung an. „Weißt du, ob wir überhaupt willkommen sind?“, fragte Shimar. „Allerdings.“, sagte IDUSA und zeigte ihm eine SITCH-Mail. Staunend las Shimar deren Inhalt und stellte fest, dass sie mit königlichen Insignien unterzeichnet war. Das ließ ihn keinen Zweifel mehr an ihrer Echtheit empfinden. „Du bist genau so eifrig und umsichtig wie meine IDUSA.“, sagte er lobend. „Ich bin Ihre IDUSA.“, sagte sie. „Entschuldige.“, bat der tindaranische Pilot um Verzeihung. „Ich muss diese ganze Sache hier erst mal irgendwie in meinen Kopf kriegen.“

Ein Signal ließ uns alle aufhorchen und IDUSA trennte Loridana, Mikel und mich von der Aufzeichnung. „Was ist los?“, fragte ich. „Ich habe einen dringenden Ruf von der Granger empfangen.“, sagte das Schiff. „Stell durch!“, befahl Mikel, der sich mit der Situation inzwischen besser angefreundet hatte, als ich je gedacht hätte. „Agent, wir müssen die Dimension verlassen!“, sagte Kissara bestimmt. „Auf Miray Prime ist der Teufel los. Beobachter vermuten, dass seine Bewohner bald dem Beispiel ihrer Nachbarn folgen werden und es ebenfalls dort eine Revolte gibt. Die Flüchtlingswellen von beiden Planeten sind kaum noch zu stoppen und werden von Tag zu Tag größer. Nugura ersucht um unsere Anwesenheit dort. Kehren Sie zurück, Außenteam! Mission abbrechen! Das ist ein Befehl!“ „Negativ, Granger.“, erwiderte Mikel. „Shimar ist auf einem guten Weg und ich denke, dass es ihm nichts ausmachen wird, wenn wir die Dimension verlassen. Seine Silberschnur wird das nicht tangieren. Sie ist nicht an die dimensionalen Grenzen gebunden, die wir kennen. Allrounder Betsy hat das tindaranische Schiff schon einmal geflogen und kann es sicher auch ein weiteres Mal, falls es nicht von sich aus auf Automatik gehen kann. Wir werden Ihnen folgen!“

Mikel sah mich an und dann IDUSAs Avatar, den wir alle wegen der Reaktionstabellen sehen konnten. „Was Sie gesagt haben, ist richtig.“, sagte IDUSA. „Die Verarbeitung der komplexen Daten, die ich von Shimar empfange, erfordert sehr viel Arbeitsspeicher. Ich kann so unmöglich auf Automatik gehen.“ „Schon gut, IDUSA.“, sagte ich und zog meinen Neurokoppler aus der Buchse. „Ich gehe ins Cockpit und fliege dich. Lade meine Tabelle schon mal um.“ „Vielen Dank, Allrounder.“, sagte der Schiffsavatar erleichtert und tat, was ich ihr gesagt hatte.

Sanft war IDUSA gelandet und hatte die Luke geöffnet. Shimar stieg aus und schritt auf einen alten Mann zu, der die Symbole der Königswürde in seinen Händen hielt und der ihn bereits lächelnd unter einem Baum im Gras sitzend zu erwarten schien. „Da bist du ja endlich, mein Junge.“, lächelte der Alte. Respektvoll blieb Shimar in einiger Entfernung stehen. „Ja, Majestät.“, bestätigte der junge Tindaraner. „Komm ruhig näher, Shimar.“, sagte der Alte und streckte ihm seine Hand entgegen, die Shimar aufnahm. Sein Händedruck erinnerte aber keineswegs an den eines alten kranken Mannes, als den wir alle Brako noch in Erinnerung hatten. Fragend ob dieser Tatsache sah Shimar ihn an. „Das wirst du auch noch erleben, wenn du wirklich tot bist.“, erklärte der König. „Alle Krankheit und aller Schmerz werden dann von dir abfallen. Aber nun setz dich erst einmal zu mir.“ „Vielen Dank, Majestät.“, sagte Shimar leise und fast feierlich und setzte sich neben den König ins Gras. „Wisst Ihr, warum ich hier bin?“, fragte Shimar. „Aber ja.“, antwortete Brako mild. „Du bist hier, um das Geheimnis des Tores zum Himmel zu ergründen. Ich muss dir sagen, dass deine Freundin und ihr Vorgesetzter dir diese Arbeit bereits abgenommen haben.“ „Dann bestätigt Ihr, dass es sich nur um ein sprichwörtliches Symbol handelt?“, fragte der junge Pilot. „Vollauf.“, antwortete der König. „Aber Eure Töchter hätten doch …“, setzte Shimar an. „Natürlich.“, sagte Brako. „Aber wie Allrounder Betsy schon richtig festgestellt hat: Gier frisst Hirn. Ich habe meinen Töchtern mit diesem Testament ja jede Möglichkeit zur Umkehr gelassen. Aber wenn sie diese nicht nutzen … Eine von ihnen ist ja bereits hier und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann ihre Schwester folgen wird. Aber mach du dir keine Vorwürfe und auch deine Kameraden trifft, wenn eintritt, was eintreten wird, keine Schuld. Hestia und Alegria wollten nicht hören. Jetzt müssen sie fühlen. Kehre nun auf dein Schiff zurück. Sie wird dich dort hin bringen, wo du hergekommen bist. Dann können deine Freunde dich leichter zurückholen.“ „OK.“, sagte Shimar und stand auf, um zu gehen.

Brako sah wenig später lächelnd dem startenden Schiff nach. Er wusste, dass sein Plan erfüllt war. Zwar hätte er es gern gesehen, wenn seine Töchter bemerkt hätten, dass er sie hereingelegt hatte und gemeinsam eine Lösung für die Herrschaft gefunden hätten, aber es war eben alles so wie es war. Hestia und Alegria war nicht zu helfen.

Über seine Tabelle hatte IDUSA bemerkt, dass Shimar sehr zufrieden war. „Wie es aussieht, haben Sie alle Informationen, die Sie bekommen wollten.“, stellte sie fest. „Oh, ja.“, sagte Shimar. „Und zwar von Brako persönlich. hör zu! Ich weiß, dass du, also das höhere Selbst meiner IDUSA, mich nicht über die Schwelle zurück ins Diesseits tragen kannst. Setz mich auf Tindara ab und dann werden wir sehen. Ich muss wohl ohne dich zurückreisen.“ „Logisch.“, sagte IDUSA nüchtern und beamte ihn auf Tindara herunter.

Shimar fand sich auf der gleichen Ebene wieder, wo er dem Schiff zuvor begegnet war. „Wenn ihr mich hört!“, rief er laut aus. „Dann lasst euch jetzt bitte etwas einfallen, wie ihr mich zurückholen könnt. Ich habe die Informationen!“

„Aber du hast sie nicht mehr lange, Bruderherz!“, schrie ihm eine Frauenstimme entgegen. Im gleichen Moment wurde er telekinetisch entwaffnet und seine Schwester tauchte vor ihm auf. „Warum, Shinell?“, fragte Shimar, während er mit aller Macht versuchte, die Informationen, die er gerade gesammelt hatte, in seinem Kopf zu halten, während Shinell in seinen Geist eindrang und sie zu löschen versuchte. „Kein Besucher darf Informationen über das Totenreich mit in die Welt der Lebenden nehmen.“, entgegnete Shinell. „Das sind die universellen Regeln. Es gebe allerdings eine Möglichkeit. Lass mich deine Silberschnur zerreißen oder tu es selbst. Dann kannst du bleiben und die Information mit dir.“ „Das ist keine Option!“, sagte Shimar konzentriert und angestrengt, während er immer noch damit beschäftigt war, sie telepathisch abzuwehren. „Aber du warst schon immer eine Jasagerin! Und als Sittenwächterin hast du dich auch schon immer gern aufgespielt! Denkst du nicht, Brako hat das auch gewusst, als er mir die Informationen gab?! Denkst du ernsthaft, er hätte das getan, wenn ich sie nicht hätte haben dürfen?! Aber ich weiß ganz genau, was hier abläuft! Es sind nicht die universellen Regeln! Es sind deine Regeln! Du willst mich hier haben! Du willst, dass ich bleiben muss, weil du Sehnsucht nach mir hast!“ „Kannst du das denn nicht verstehen, kleiner Bruder?“, fragte sie. „Doch.“, sagte Shimar. „Aber das geht nicht.“ „Oh, doch!“, schrie Shinell und machte sich an seiner Silberschnur zu schaffen.

N’Cara schrie auf. „Was ist?!“, sagte Loridana alarmiert und eilte zu ihr. „Es ist Shimar!“, rief die kleine Lithianerin total aufgelöst. „Jemand manipuliert seine Silberschnur. Er kämpft mit demjenigen. Es ist eine Frau!“ „Sytania?“, fragte die Ärztin, die ihren Neurokoppler der großen Entfernung zwischen ihr und dem Mädchen wegen ablegen musste und somit nicht mehr wusste, was vorging. „Nein!“, rief N’Cara. „Sie ist Tindaranerin! Es soll aufhören! Ich kann nicht mehr! Er verliert den … Oh, Gott!“

Loridana kramte einen Hypor mit einem Psilosinin senkenden Mittel hervor und spritzte es ihr. „Das wird deine Fähigkeiten erst mal etwas unterdrücken.“, sagte sie. „Das ist gesünder für dich. Dein Stresslevel ist viel zu hoch. Agent, helfen Sie bitte mal.“

Auch Mikel setzte nun seinen Neurokoppler ab und half Loridana, N’Cara vorsichtig auf dem Boden abzulegen. Dann legte die Ärztin ihr ihren Arztkoffer unter die Beine. „Sie hat einen Schock.“, erklärte die Zeonide. „Wir müssen ihren Kreislauf auffangen. Ich werde ihr gleich noch etwas geben.“ Mikel, der inzwischen seinen Neurokoppler wieder aufgesetzt hatte, nickte nur.

„Verdammt, warum willst du nicht bleiben?!“, schrie Shinell. „Das habe ich dir schon erklärt.“, antwortete Shimar schon recht atemlos vor Konzentration, denn er war jetzt damit beschäftigt, seine Silberschnur zu verteidigen. Er hatte nie gedacht, dass sie einen Kampf mit ihm so lange durchhalten würde. Müde werden würde sie nicht, denn wenn er Brako glauben würde, dann würde jedes körperliche Leid einem Toten völlig fremd sein. Ihm musste jetzt dringend etwas einfallen, wie er sie abschütteln konnte. „Also gut.“, sagte er. „Ich werde bleiben.“ Damit ließ er seinen geistigen Schild zunächst fallen, baute ihn aber fast in der gleichen Sekunde, in der sie von ihm abließ, wieder vollends auf, was sie, die ihn gerade umarmen wollte, weit weg schleuderte. „Du warst schon immer sehr leichtgläubig, Schwesterlein.“, sagte Shimar und drehte sich von ihr weg. „Und nun holt mich endlich!“, wendete er sich an uns. „Bevor sie sich erholt!“ „Das wird dir nichts nützen, hörst du?!“, rief Shinell ihm nach. „Die Schwelle ins Diesseits wird dir deine Sicherheit über die Informationen höchst persönlich nehmen! Sie wird sie dir nehmen, hörst du mich, Shimar! Alles wird dir nur wie ein Traum erscheinen! Wie ein Traum!“

„Sieht aus, als wolle er zurück.“, sagte Mikel, der die Informationen seines Neurokopplers entsprechend interpretierte. „Sehe ich genau so.“, sagte Loridana und schaltete die Beatmung ab. „Wir müssen seinen Körper dazu bringen, ihn zurückzuwollen.“, erklärte sie.

Alsbald hörte Shimar wieder jenes Sausen und spürte den gleichen Schwindel, den er schon kannte. Gleichzeitig spürte er, wie seine Silberschnur ihn zog. „Na endlich.“, atmete er auf und gab dem Zug nach.

Das Nächste, das Loridana auf dem Display ihrer Geräte sah, war eine stetig steiler werdende Neurokurve und das Ansteigen der Herzfrequenz. Dann holte Shimar tief Luft. „Willkommen unter den Lebenden.“, lächelte ihm die Ärztin zu. „Hast du die Informationen?“ „Ich bin nicht sicher!“, sagte Shimar verzweifelt. „Es kommt mir alles wie ein Traum vor. Bitte, wo ist Betsy?!!“ „Sie fliegt das Schiff.“, sagte Loridana. „Aber ich werde sie holen.“ „O, ja, bitte.“, sagte Shimar.

Loridana betätigte die Sprechanlage: „Allrounder, bitte kommen Sie nach hinten. Shimar ist wach, aber es gab wohl Komplikationen.“ „Komme.“, gab ich zurück. „IDUSA kann jetzt ja wieder auf Automatik fliegen.“

Ich durchschritt die Tür zwischen Cockpit und Achterkabine. „Oh, Kleines!“, rief mir Shimar entgegen. „Es war umsonst! Es war alles umsonst! Sicher habe ich nur geträumt!“ „Das glaube ich nicht, Srinadar!“, entgegnete ich mit Überzeugung. Dann befahl ich in Richtung des Schiffsavatars: „IDUSA, zeig’s ihm!“

Sie zeigte dem völlig verdatterten Shimar einen virtuellen Schirm, auf dem er alles, was er bisher im Jenseits erlebt hatte, noch einmal zu sehen bekam. Im Hintergrund aber lief ständig eine Nulllinie mit. „Das sollte Ihnen beweisen, dass Sie nicht geträumt haben.“, sagte das Schiff. „Ihre REM-Schlaf-Frequenz sieht anders aus.“ „Das hast du deiner Freundin zu verdanken.“, sagte Loridana. „Allrounder Betsys Idee hat ermöglicht, dass IDUSA alles aufzeichnen konnte und wir jetzt einen Beweis für Hestia haben. Nur so viel. Sie versteht eine Menge von Frequenzen und Wellenlängen.“ „Oh, mein schlaues Kleines!“, rief Shimar und zog mich an sich. „Ich will es gar nicht so genau wissen, wie du das angestellt hast. Wichtig ist, dass es funktioniert hat. Aber die nicht relevanten Daten müssen wir vernichten. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn bekannt würde, dass es ein Jenseits …“ „Niemand wird diese Datei manipulieren!“, mischte sich Mikel ein. „Als Geheimagent kann ich die Informationen als streng geheim deklarieren, wenn wir hiermit durch sind. Dann kommen sie nie an die Öffentlichkeit. Aber wenn wir die Datei manipulieren, dann kann uns Hestia das später vorwerfen und glaubt uns kein Wort. Dann wäre wirklich alles umsonst!“ Wir nickten alle verständig. „Na dann auf nach Hestien.“, sagte ich und drehte mich wieder in Richtung Cockpit.

Auf der Brücke der Granger hatte Kissara Kangs Bericht eingefordert. „Das tindaranische Schiff ist weiterhin hinter uns.“, begann der Klingone. „Außerdem hat Agent Mikel darum gebeten, herübergeholt zu werden. Er ist als Experte nicht länger vonnöten und könnte Allrounder Betsys Posten übernehmen. Dann kann ich wieder ans Waffenpult gehen.“ „Dort fühlen Sie sich ja eh am wohlsten, Mr. Kang.“, scherzte Kissara. „Das ist es nicht nur.“, erwiderte der Stratege. „Es gibt auch einen weiteren SITCH von Nugura. Sie bittet uns inständig, bei dem Flüchtlingsproblem auf den beiden mirayanischen Planeten zu helfen. Wir sollen uns mit einem Versorgerverband treffen. Die politische Lage auf Miray zwei ist extrem. Es gibt eine Menge Banden und Marodeure, die sich einfach nehmen, was sie kriegen können. Auch eine Menge anderer fragwürdiger Gruppierungen.“ „Oh, mein Gott.“, rief Kissara aus und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie war klug genug, um sich denken zu können, dass dies kein sehr lebenswerter Zustand für den einfachen Mann und die einfache Frau auf Miray war. Von den Kindern ganz zu schweigen. Natürlich durfte sich die Föderation nicht von sich aus einfach einmischen, aber die Hilferufe, die es von Seiten der Flüchtlinge gegeben hatte, waren ja laut genug gewesen. Auf einen Notruf durfte man ja entsprechend reagieren und derlei hatte es wie gesagt genug gegeben.

Kissara hatte sich wieder gefasst. „Sprechen wir über die Versorger, Mr. Kang.“, sagte sie. „Ich halte es auch für besser, wenn Sie wieder Ihren Posten einnehmen. Eventuell haben wir es mit Altlasten aus den Bürgerkriegen zu tun, die von den Kriminellen vielleicht an sich gerissen worden sein könnten. Ich möchte nicht, dass die Besatzungen der Frachter unangenehme Überraschungen erleben müssen. Mit den strategischen Sensoren und einem Offizier dahinter, der davon Ahnung hat, müsste es uns gelingen, ihnen den Rücken frei zu halten. Hat Nugura sich genauer über den Verband geäußert, auf den wir treffen werden?“ „Das hat sie.“, sagte Kang und stellte Kissara die Mail von ihrer gemeinsamen Oberbefehlshaberin auf ihren Platz durch.

Die Kommandantin überlas den größten Teil. Sie war ja schon durch Mr. Kang grob informiert worden. Als sie aber zu der Stelle mit den Schiffsnamen kam, stutzte sie kurz. „Die Gütersloh und die Schoost.“, buchstabierte sie mit offenem Mund. „Von den beiden Schiffen habe ich noch nie gehört.“

„Kein Wunder.“, meldete sich Mikel aus dem Hintergrund, der inzwischen eingetroffen war. „Aber ich denke, man kann es dem Waffenoffizier des dritten Flaggschiffes der Föderation auch nicht übel nehmen, wenn er nicht jeden Versorger in- und auswendig kennt.“ „Vielen Dank, Agent.“, bedankte sich Kang. „Gern geschehen.“, entgegnete Mikel und ging auf Kang zu: „Ich löse Sie ab!“

Ich war mit IDUSA hinter der Granger her durch die Wirbel gegangen. „Warum haben wir nicht einfach den Interdimensionsantrieb benutzt, Allrounder?“, hatte sich das Schiff bei mir beschwert. „Ich meine, Sie können mich doch auch sehr gut in dem genannten Modus fliegen. Statt dessen bestehen Sie auf dieser altmodischen Art und Weise.“ „Agent Mikel hat meinem Commander versprochen, dass wir der Granger folgen und das tun wir auch und damit Basta!“, erklärte ich. „Außerdem kommt der Hochmut bekanntlich vor dem Fall. „Sytania wird nicht gefallen, dass wir eine Information haben, die dringend zu Prinzessin Hestia muss. Was wäre, wenn sie die interdimensionale Schicht so verändert hätte, dass wir sonst wo gelandet wären. Sie hätte wahrscheinlich sogar erwartet, dass wir den Antrieb benutzen. Aber wir müssen genau das tun, was sie nicht erwartet.“ „Entschuldigen Sie.“, entgegnete IDUSA. „Aus dieser Warte habe ich es nicht betrachtet. Aber Sie haben natürlich Recht. Vom strategischen Standpunkt aus gesehen war Ihre und die Entscheidung des Agent sicher richtig.“ „Na also.“, sagte ich und strich mit meinem rechten Zeigefinger über die Leiste mit den Ports, um ein von ihr gern gespürtes Massesignal zu erzeugen. „Womit habe ich das verdient, Allrounder?“, fragte sie. „Mit deinem Verhalten.“, antwortete ich. „Ich weiß, dass du nicht so hochmütig bist, wie du gerade getan hast.“

Shimar kam durch die Tür ins Cockpit gewankt. An seinem Gang konnte ich gut hören, dass es ihm noch nicht sehr gut zu gehen schien. Jenes Schlurfen und Tapsen war ich von ihm, der immer sehr sicher auftrat, nicht gewohnt. „Oh, setz dich.“, sagte ich leise und zog ihn auf den Sitz neben mir. „Hattest du eine Diskussion mit IDUSA?“, fragte er. Ich nickte. „Das kenne ich.“, sagte er. „Aber das ist ja auch nicht weiter schlimm. Mal hat sie Recht und mal habe ich Recht, beziehungsweise in diesem Fall du. Aber in der Sache ist es gut, wenn man etwas durchspricht, damit es am Ende nicht deshalb schiefgeht, weil man vielleicht etwas außer Acht gelassen hat.“ „Ganz deiner Meinung.“, sagte ich.

Er gab einen Laut von sich, der mich schließen ließ, dass er noch immer sehr erschöpft sein musste. „Oh, je!“, sagte ich und streichelte ihn. „Noch immer so schlimm?“ „Hast du Geschwister?“, wollte er wissen. „Halbgeschwister habe ich.“, war meine kurze Antwort. „Warum?“

Er schien zu erstarren, aber ich wusste, dass er in Wahrheit mit einem Weinkrampf kämpfte. „IDUSA, geh auf Automatik!“, befahl ich dem Schiff und zog Shimars Kopf an meine Brust. Während ich ihm die Nase putzte und die schweißnasse Stirn abtupfte, redete ich ununterbrochen halb auf Englisch und halb auf Tindaranisch auf ihn ein. Ob eine meiner Vorgängerinnen einmal in so einer Situation gesteckt hatte, konnte ich nicht sagen. Aber die sensible Sato wäre sicher ähnlich damit umgegangen. Über Uhuras Umgang damit konnte ich nichts sagen. Aber mein Vergleich hinkte ohnehin sehr, denn keine dieser Frauen hatte ja, zumindest meines Wissens, das Steuerpult eines Raumschiffes hauptberuflich bedient.

„Warum wolltest du wissen, ob ich Geschwister habe?“, flüsterte ich meinem traurigen und zitternden Geliebten ins Ohr. „Gott, Kleines!“, schluchzte Shimar. „Ich musste, um das Totenreich wieder verlassen zu können, gegen meine eigene Schwester kämpfen. Ich musste sie behandeln wie einen Feind. Ich hatte eine unglaubliche Wut während des Kampfes. Aber sie ist doch meine Schwester!“

Mir kam in den Sinn, was er während des Kampfes zu Shinell gesagt hatte. „Euer Verhältnis war aber nicht gerade rosig.“, stellte ich fest. „Du hast sie eine Jasagerin und eine Sittenwächterin genannt.“ „Das stimmt.“, sagte Shimar, der sich langsam wieder beruhigte. Dabei bemerkte er, wie gut es ihm eigentlich tat, seiner übermoralischen, überfürsorglichen und oft auch übergriffigen Schwester einmal die Meinung gesagt zu haben. Auf den richtigen Zeitpunkt hatte er so lange gewartet! So lange, bis sie tot war. „So lange hatte ich warten müssen.“, flüsterte er. „Aber dies war endlich die richtige Zeit.“

Er wollte sich aufrichten, aber ich zog seinen Kopf zurück. „Hier gehört dein Kopf hin.“, flüsterte ich ihm zu und begann zu singen. Die Schwingungen meines Brustkorbes würden ihm sicher bei der Heilung helfen. Ich dachte mir das, da ich wusste, dass die Tindaraner kristallinen Ursprungs sind und Kristalle positiv auf akustische Stimuli reagierten, soweit ich gelernt hatte. Loridana würde das sicher bestätigen. Sie hatte nach seiner problematischen Rückkehr Shimar sicher erst einmal konzentrationsintensive Dinge verboten. Warum sollte ich nicht dafür sorgen, dass es ihm bald wieder so gut ging, dass dieses Verbot aufgehoben werden konnte.

Schon wieder musste ein Popsong aus meinem Jahrhundert herhalten. Die Worte, die Shimar zuletzt benutzt hatte, hatten in meinen Synapsen unweigerlich eine Brücke zu einem Lied geschlagen, dessen erste Strophe und Kehrreim frei übersetzt etwa lauten konnten: „Also finde ich es schwer zu schlafen, weißt du das nicht? Die Sonne scheint in mein Fenster, Das Leben ist im Fluss. Mache Musik am Morgen, Lichter der Freude. Die Schaffenskraft berührt mich, der Schmerz verfliegt. Dies ist die richtige Zeit. Einmal im Leben …“

Ich spürte, dass er sich immer mehr entspannte. „Sing weiter, Kleines.“, flüsterte er. „Deine Stimme tut so gut. Sing weiter.“ Dann schlief er ein. Trotzdem konnte ich einfach mit dem Singen nicht aufhören. Ich wusste, dass er die Schwingungen auch noch im Schlaf wahrnehmen würde. Außerdem war ich ohnehin als „Allrounder Singvogel“ in der gesamten Sternenflotte bekannt, weil ich Situationen, die irgendwie eines Trostes bedurften, meistens dafür benutzte, um jemandem zum Trost etwas vorzusingen.

Alegrien war ein Schlachtfeld, als wir dort eintrafen. Commander Kissara und die Kommandanten der beiden Frachter hatten sich dahingehend verständigt, dass die Gütersloh sich um den gerade genannten Planeten und die Schoost sich um Hestien kümmern sollte. Wie ein Warnposten würde die Granger zwischen den Planeten hin und her patrouillieren und aufpassen, falls es zu irgendwelchen unvorhergesehenen Schwierigkeiten kommen sollte. Dazu hatte sie eine Position in der Nähe der Sonne eingenommen.

„Haben Sie Commander Lawson und Commander Sunida über unser Begleitschiff informiert?“, wendete sich Kang an Kissara. „Sicher habe ich das, Warrior.“, antwortete sie. „Ich wollte nur sicher gehen.“, erklärte der Klingone. „Nicht, dass die Beiden noch meinen, es seien irgendwelche Raumpiraten oder gar Kriminelle von einem der Planeten, die sich ein tindaranisches Schiff unter den Nagel gerissen haben.“ „Keine Panik, Kang.“, beruhigte ihn Mikel flapsig. „Meines Wissens lassen sich tindaranische Schiffe nicht so einfach von Kriminellen unter irgendwelche Nägel reißen, weil sie selbst genau wissen, was richtig und was falsch ist.“ „Vielen Dank, Sir.“, antwortete Kang. „Das vergesse ich immer wieder.“

Kissara ließ ihren Blick über den Schirm schweifen, auf dem jetzt das ganze Ausmaß des Chaos zu sehen war. „Na, auf Hestien geht es ja noch.“, sagte sie. „Kein Wunder.“, pflichtete Kang bei. „Dort gibt es ja noch eine Herrscherin und somit Recht und Ordnung.“ „Faktisch sind beide Planeten ohne Herrscher.“, korrigierte Mikel. „Nach dem Ty-Nu-Lin-Ritus ist noch keine der Prinzessinnen zur Herrschaft berechtigt. Das Tor zum Himmel ist faktisch noch nicht gefunden und wir wissen, dass es nie gefunden werden wird, weil es einfach nur ein Sinnbild ist. Die Miray wissen das und die Tatsache, dass Hestia jetzt trotzdem auf dem Thron sitzt, ist nur eine rein pragmatische Lösung, weil niemand sonst da ist.“ „Sie meinen, Sir.“, fragte Kang nach. „Das mirayanische Volk auf Miray Prime riecht den Todesgeruch von Hestias Herrschaft?“ Mikel schluckte und meinte dann: „Dass Klingonen immer so krass formulieren müssen! Aber Sie haben im Prinzip Recht, Kang.“ Wie Recht Kang in Wahrheit haben sollte, ahnte noch niemand, am wenigsten er selbst.

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