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Im Plenarsaal der Regierungsbasis der Föderation waren alle Parlamentarierinnen zusammengekommen. Agatha hatte noch einmal darauf bestanden, dass das Problem Granger höchster Dringlichkeit war und einer schnellen Lösung bedurfte. Jetzt saßen alle auf ihren Plätzen . Auch Saron, der abseits an einer Art Katzentisch Protokoll führte, war anwesend. Dem intelligenten Sekretär war nicht entgangen, dass Nugura wohl keine wirkliche Chance gegen Agatha haben würde, wenn die Präsidentin sich streng an die rednerischen Vorgaben halten würde. Es wäre besser gewesen, wenn Nugura sich ebenfalls eine etwas listigere Vorgehensweise überlegt hätte als die, mit der sie jetzt aufwarten würde. Saron kannte ihre Rede. Er hatte sie ja schließlich mit der eigenen Stimme aus Stichworten, die sie ihm gegeben hatte, ausformuliert. Allerdings hatte er von Nugura strenge Order bekommen, nicht etwa irgendwelche Winkelzüge einzubauen. Nugura wusste, dass Agatha dies tun würde, aber dazu wollte sie sich nicht herablassen. Sie wollte die Redeschlacht durch pure Ehrlichkeit und die Erinnerung an die Gesetze und ihren Sinn gewinnen. Obwohl Saron Agathas Rede, mit der sie die Debatte als Gastgeberin eröffnen würde, nie gesehen hatte, sagte ein unbestimmtes Bauchgefühl dem Sekretär, dass sie alle auf ihre Seite ziehen würde.

Agatha, eine blonde schlanke hoch gewachsene Frau von ca. 170 cm Größe und in ein hochgeschlossenes weißes Kleid gehüllt, zu dem sie ebenfalls weiße hohe Schuhe trug, hatte das Podium betreten. Genau notierte Saron die zentrale Allzeit des Beginns der Redeschlacht ins Protokoll, wie es ihm seine Vorgesetzte aufgetragen hatte. Schließlich würde er Anfang und Ende von Nuguras Debakel festhalten müssen. „Ladies.“, begann Agatha. „Sie wissen alle, warum wir heute hier zusammengekommen sind. Ihnen dürfte bekannt sein, dass es unter uns eine Verräterin gibt, die einer weiteren Verräterin gestattet, ihre giftige Propaganda zu verbreiten und dafür auch noch Beweise zu suchen. Sie alle wissen, von wem ich rede. Ich rede von Präsidentin Nugura, die Commander Kissara deckt. Beide sind Verräterinnen am eigenen Geschlecht, Ladies! Ich frage Sie, dürfen wir das zulassen?! Viele von Ihnen kommen aus Gesellschaften, die in früheren Zeiten von den Männern dominiert worden sind. Was hat Ihnen das gebracht, frage ich! Nur Krieg und Zerstörung! Das kommt daher, weil das männliche Geschlecht zu vernünftigen Schlüssen nicht fähig ist! Sie werden beherrscht vom destruktiven Gedankenbild der Gewalt! Aber wir, Ladies, wir können es besser! Deshalb sage ich: Die Eroberung der Föderation durch die Genesianer war ein Geschenk! Gebt Kissara und Nugura nicht die Möglichkeit, es zu zerstören und stimmt für mich, denn ich sage: Wir sind die besseren Regentinnen! Stoppen Sie die Granger, Ladies! Stoppen Sie die Granger! Es liegt allein in Ihrer Hand, ob wir ein Kriegsschiff hinter ihr herschicken, dass Kissaras Schnüffelei ein für alle Mal ein Ende bereitet oder nicht. Es liegt bei Ihnen, ob wir in jene rückständigen Zeiten zurückfallen, oder ob wir einem neuen fortschrittlichen Zeitalter entgegen schreiten, in dem.“

Sie holte etwas unter dem Rednerpult hervor, das Saron an eine altertümliche Waage für Gemüse auf einem Wochenmarkt erinnerte. Zuletzt hatte er so etwas im Geschichtsunterricht in der Schule auf Demeta gesehen. Der Wage folgte ein Holzbrett mit Gewichten. Der Sekretär beobachtete, wie Agatha eine Waagschale mit Gewichten füllte, die andere aber komplett leer ließ, was dazu führte, dass sie nach unten sank und die Waage eine schräge Ebene darstellte. Dann ließ sie die leere Schale baumeln, indem sie diese mit dem Finger anstieß und spottete, ihren Satz von vorher fortsetzend: „Wir die Männer am ausgestreckten Arm verhungern lassen, weil wir jetzt die Macht inne haben und unsere Waagschale die Schwerere ist, jawohl!“

Tosender Beifall brauste durch die Reihen. Saron, der die Rede in Stichworten mitgeschrieben hatte, zählte insgeheim, wie oft sie das Wort Ladies verwendet hatte. Ihm war bewusst, dass sie das mit voller Absicht getan hatte, um Nugura zu verunglimpfen und gleichzeitig alle anderen auf ihre Seite zu ziehen. Deshalb hatte sie diese wohl auch auf die Vergangenheit aufmerksam gemacht. Allerdings wusste er auch, dass sie mit einem oder zwei Dingen in ihrer Rede nicht ganz richtig lag. Zum Ersten waren auch die Genesianer Kriegerinnen, symbolisierten also in gewisser Weise das, was sie gerade so verabscheut hatte. Zum Zweiten konnte es nie gut sein, wenn nur einer, oder auch nur eine Gruppe, oder auch nur ein Geschlecht, die Herrschaft hatte. Die anderen würden immer wenigstens nach Gleichberechtigung streben. Ob nun nur die Männer oder nur die Frauen. Egal wer herrschen würde, dieses Problem würde sich nicht auflösen, sondern nur verlagern. Er hoffte, dass Nugura dies auch sehen würde. Ein Zeichen konnte er ihr nicht geben. Das wäre zu auffällig gewesen.

Ohne ihr Schaubild abzubauen, oder es gar so wie es war mitzunehmen, verließ Agatha das Rednerpult, um Nugura Platz zu machen. Sie schaute es an und blickte dann einmal spöttisch darüber hinweg. Dann sagte sie: „Interessantes Bild, das meine Kontrahentin da aufgebaut hat. Aber, Ladies und ich begrüße auch den Gentleman, meinen Sekretär, hier in unseren Reihen, der sicherlich auch gemerkt haben wird, dass sie einen großen Denkfehler gemacht hat. Saron, würden Sie mir bitte einmal Ihre Krawattennadel leihen? Sie bekommen sie gleich wieder.“ Stumm reichte er ihr den angeforderten Gegenstand, den sie auf dem Querbalken, an dem die beiden Waagschalen hingen, platzierte. Da der Balken aber schräg stand, rutschte die Nadel laut klirrend herunter. Erneut legte Nugura sie auf und erneut geschah das Gleiche. „Nun ja.“, sagte sie. „Vielleicht kann unsere verehrte Agatha es ja besser. Würden Sie noch einmal zu mir nach vorn kommen, verehrte Kollegin?“

Agatha stand lächelnd von ihrem Stuhl auf. Entweder machte sie gute Miene zum bösen Spiel, oder sie glaubte wirklich, dass sie es besser könnte ungeachtet von physikalischen Tatsachen, die auch sie nicht ändern konnte. Saron aber sah im Schachzug seiner Vorgesetzten eine Chance, Agatha zu demontieren. Jetzt würden alle merken, dass sie sich gründlich geirrt hatte und dass eine gleichberechtigte Demokratie der weitaus bessere Weg war. Er sah, wie Nugura Agatha die Nadel in die Hand gab, um dann zu sagen: „Bitte, Agatha, versuchen Sie ihr Glück.“

Das Staatsoberhaupt von Angel One legte die Nadel auf den Balken, aber auch bei ihr fiel sie herunter. „Sehen Sie, verehrte Kollegen?“, wendete sich Nugura an alle anderen Anwesenden. „Auf einem Gefälle kann man eben nichts aufbauen. Aber wir werden einmal für einen Ausgleich sorgen.“ Damit nahm sie eine Anzahl Gewichte aus der einen Waagschale, um sie in die andere zu füllen. Sie füllte so lange hin und her, bis das Gewicht vollständig ausgeglichen war. Dann legte sie die Nadel erneut auf, die dieses Mal tatsächlich liegen blieb. Saron atmete erleichtert auf. Jetzt hatte sie Agatha mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Er hoffte, dass sich dies auch in der Abstimmung niederschlagen würde. „Sie sehen also, dass man nur mit Gradlinigkeit etwas erreichen kann.“, sagte Nugura. „Und diese Gradlinigkeit erwarte ich jetzt auch von Ihnen, wehrte Kolleginnen. Erinnern Sie sich bitte daran, was wir geschworen haben, als wir unsere Ämter angetreten haben. Wir haben geschworen, uns immer an die Gesetze zu halten. Das bedeutet auch, dass wir die Dinge bekämpfen, die nicht rechtens sind und ich sage Ihnen, dass die Eroberung der Föderation durch die Genesianer nicht rechtens war. Ich bin sicher, dass sie nur benutzt wurden, aber das dürfen wir nicht zulassen. Deshalb bitte ich Sie, Commander Kissara ihre Nachforschungen zu gestatten und kein Kriegsschiff hinter ihr herzuschicken! Denn damit spielen Sie uns nur in Feindeshand. Ich weiß nicht, welcher Mächtige es war, aber mir würden schon ein oder zwei Namen einfallen. Also, schreiten wir zur Abstimmung. Es liegt bei Ihnen, ob Sie zulassen können, dass wir zum Spielzeug Sytanias oder eines anderen Feindes werden.“

Alle setzten sich aufrecht hin und drehten sich zu den kleinen Modulen mit den beiden Tasten vor sich, die schon immer als Abstimmungswerkzeuge benutzt wurden. Dann stellte der Computer noch einmal die Frage: „Soll ein Kriegsschiff hinter der Granger hergeschickt werden oder nicht?“ Nachdem alle abgestimmt hatten, las die künstliche Intelligenz das Ergebnis vor. „Auf die Antwort ja entfielen 98 % der Stimmen. Auf die Antwort nein entfielen 2 %.“ Ernüchtert schrieb Saron das Ergebnis ins Protokoll. Er wusste, jetzt würde Kissara ein Schiff hinterhergeschickt werden, das sie aufbringen würde. Nugura hatte alles versucht, um das zu verhindern, war aber chancenlos geblieben. Agatha war einfach zu gerissen. Aber die Sternenflotte hatte ja kaum noch Kriegsschiffe. Sie hatte doch alles an die Eroberer abgeben müssen. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance.

„Präsidentin, auf ein Wort.“ Wer Nugura da gerade angesprochen hatte, war ihr völlig entgangen, denn sie war damit beschäftigt, über die weitere Situation nachzudenken. Erst als sie sich umdrehte, erkannte sie im erlöschenden Licht das Gesicht T’Mirs, des Staatsoberhauptes von Vulkan. „Was gibt es, T’Mir?“, fragte Nugura mit leicht verzweifeltem Unterton. „Ich bin auf Ihrer Seite.“, kam die rothaarige Vulkanierin zur Sache. „Ich weiß, dass sich die Genesianer seit einiger Zeit komplett unlogisch verhalten. Laut ihrer eigenen Mythologie hat sie die Wächterin von Gore auf den Pfad der Ehre geführt, den sie jetzt verlassen haben. Sie bevorzugen eigentlich den Kampf mit gleichen Waffen, weil sie ihn als ehrenhaft bezeichnen. Also, warum sollte eine Göttin, die sie auf den Pfad der Ehre gebracht hat, von selbigem abweichen? Außerdem weiß ich, dass Agatha sich selbst in ihrer eigenen Rede einige beeindruckende Fallstricke gebaut hat, auf die Sie eindrucksvoll hingewiesen haben. Da mich der Grund für das unlogische Verhalten der Genesianer genau so interessiert wie Sie, habe ich Sie während der Abstimmung unterstützt.“ „Aber was nützt uns denn das, T’Mir?“, resignierte Nugura. „Es wird ein Schiff geschickt werden. Daran führt kein Weg vorbei.“ „Aber das wird kein Kriegsschiff sein.“, sagte T’Mir. „Das einzige Schiff, das im Augenblick zur Verfügung steht, ist der Forscher Niagara. Commander Cinia und Commander Kissara waren Klassenkameradinnen. Sie verband eine tiefe Freundschaft. Es könnte ja zu einem unbeabsichtigten Zwischenfall kommen, der verhindert, dass die Niagara die Granger aufbringt. Es gibt Gerüchte, dass Commander Time vor seinem Tod etwas geplant hat, worin Techniker Cenda involviert ist, die jetzt den Platz von Techniker Chechow eingenommen hat.“

Ohne eine Reaktion von Nugura abzuwarten, drehte sich die Vulkanierin und ging. In den Augen der Präsidentin keimte wieder leichte Hoffnung. Wenn T’Mir Recht hatte, war vielleicht doch noch nicht alles zu spät.

Mit einem zufriedenen Grinsen saß Telzan mit Sytania vor dem Kontaktkelch. „Habe ich Euch nicht gesagt, dass Agatha es schon richten wird, Milady?“, fragte der Vendar mit einem fast süffisanten Tonfall. „Ja, das hast du.“, bestätigte die imperianische Königstochter. „Ich hätte nie gedacht, dass die Politikerinnen der Föderation so leicht zu beeindrucken sind.“ „Sie werden alle an ihren Posten hängen.“, sagte Telzan lakonisch. „Es ist im Grunde immer das Gleiche. Sie sagen zwar, dass ihnen Macht und Status nichts mehr bedeuten, aber in Wahrheit schmeichelt es auch ihrem Ego, einen guten Posten zu besetzen, den sie so leicht nicht aufgeben wollen.“ „Das ist eine Eigenschaft, die uns jetzt sehr hilft.“, erklärte Sytania.

Tolea kam hinzu. Auch sie hatte mit ihren seherischen Fähigkeiten die Abstimmung beobachtet. „Mir scheint, wir haben einen Grund zum Feiern, edle Freundin.“, sprach sie Sytania an. „Den haben wir allerdings.“, antwortete diese. „Ich sollte Telzan und dir, vor allem dir, in Angelegenheiten der Föderation wirklich mehr Vertrauen entgegenbringen. Du kennst sie viel besser und du, Telzan, bist der beste Stratege, den ich haben kann. Wenn ihr zwei euer Wissen addiert, kann uns ja eigentlich nichts mehr passieren.“ „Sehr großzügig, Sytania.“, sagte Tolea. „Wo du doch sonst immer die sein willst, die bestimmt, wo es lang geht.“ „Es gibt Zeiten.“, begann Sytania. „In denen es besser sein kann, auf den Rat von Experten zu hören. Wir müssen schließlich noch mit Kissara und ihren Verbündeten fertig werden, bevor ich die Föderation mein Eigen nennen kann und sie aus der Geschichte entferne.“ „Um meinen Neffen musst du dich nicht sorgen, Sytania.“, tröstete Tolea. „Das Thema hat sich morgen früh erledigt. Dafür werden die Genesianer schon sorgen. Und Eldisa, die ist viel zu jung und viel zu schwach, um dir etwas entgegenzusetzen. Gut, sie hat ja noch ihre Mutter, Aber Lady Messalina kann ihr nur beistehen. Den eigentlichen Kampf gegen dich wird sie selbst ausfechten müssen. Dann wird die Zeit dir gehören und du kannst endlich dafür sorgen, dass es diese verdammte Föderation nie gegeben hat. Oh, wenn mein Neffe wüsste, wie sehr er dir damit in die Hand gespielt hat.“ Sytania lachte wie eine alte Hexe, aber auch Tolea fiel in dieses Lachen ein. Die schwarze Macht in ihr hatte bereits zu sehr die Oberhand gewonnen, als dass Tolea noch merkte, was sie da eigentlich unterstützte.

Saron und Nugura waren in deren Büro zurückgekehrt. „Sie werden mir sofort eine Verbindung mit der Granger schalten.“, sagte die Präsidentin blass, als sie in Sarons Protokoll noch einmal die Ergebnisse der Abstimmung nachgelesen hatte. „Wir müssen Kissara warnen. Wir müssen ihr sagen, dass ich sie nicht mehr schützen kann. Wer hat überhaupt gegen Agatha gestimmt? Haben Sie etwas gesehen, Mr. Saron?“ „Das habe ich.“, sagte der Sekretär. „Die Präsidentinnen von Platonien, Celsius und Demeta haben gemeinsam mit dem vulkanischen Staatsoberhaupt gegen Agatha gestimmt, soweit ich das von meiner Position aus beurteilen konnte. Ich schätze, dass Synthia und Nitrin teilweise aus Vernunft, aber auch aus Sympathie für uns gestimmt haben. T’Mir wird sicher einen logischen Grund haben.“ „Den hat sie.“, sagte Nugura. „Sie wissen, dass sie uns kurz aufgehalten hat. Sie hat mir gesagt, dass wir die Unterstützung Vulkans sicher hätten. Gut, das nützt eigentlich nicht viel, aber sie hat mir noch eine Information gegeben. Sie sagte, dass die Niagara das einzige freie Schiff sei. Cinia und Kissara waren Klassenkameradinnen auf der Akademie und auch beste Freundinnen. Außerdem soll Techniker Cenda auf der Niagara sein, die Chechows Posten eingenommen hat. Es gibt Gerüchte, denen nach Time etwas geplant haben soll, in das seine Chefingenieurin eingeweiht war. Aber mehr hat T’Mir nicht gesagt. Vielleicht hat sie auch nicht mehr gewusst.“ „Aber das würde ja bedeuten, dass Kissara noch eine Chance hat.“, sagte Saron, der aber eigentlich nur überspielen wollte, dass er keine Ahnung hatte, wie er uns erreichen sollte, denn mit dem Umschreiben des Transpondersignals hatte Jannings auch unser Rufzeichen verändert. Über den so genannten Unbekannten Modus würden alle Rufzeichen in Reichweite angesprochen und es bestünde die Gefahr, dass der Falsche etwas mitbekommen könnte.

„Bitte erlauben Sie mir, das in eine SITCH-Mail zu schreiben.“, bat Saron, der Zeit schinden wollte, um etwas auszuprobieren, das ihm gerade eingefallen war. Seine Überlegungen, wie ein eventuelles neues Rufzeichen aussehen könnte, hatten ihn zu dem Ergebnis geführt, dass man vielleicht die ersten beiden Buchstaben von Kissaras Namen plus der entsprechenden Ziffern und eine so genannte Überführungskennung, die aus drei Sternen bestand, verwendet haben konnte. Das würde er auf jeden Fall versuchen.

Zirell war auf die Krankenstation geeilt. Sie hatte durch Joran sehr schnell von der Situation erfahren, aus der Ginalla Nidell und IDUSA gerettet hatte. Die Kommandantin wusste, dass sie eine Fehlentscheidung getroffen hatte und hochmütig über alle Bedenken hinweggegangen war. Wenn die tindaranischen Götter sie jetzt bestrafen wollten, dass dachte sich die gläubige Frau, dann würden sie auch allen Grund dafür haben. Aber auch bei Maron würde sie sich entschuldigen müssen. Er hatte von Anfang an Recht gehabt.

Sie legte ihren Finger in die Sensorenmulde für die Tür, blieb aber erschrocken am Eingang der Krankenstation stehen, als sie dem blassen schmalen Etwas auf dem Biobett ansichtig wurde. Die von sich aus schon sehr zierliche Nidell wirkte jetzt noch zerbrechlicher und hilfloser. Verschämt senkte Zirell ihren Blick.

„Warum kommst du nicht herein?“ Die Stimme, die dies gefragt hatte, kannte die tindaranische Kommandantin. Sie wusste, dass sie deren Besitzer ruhig alles sagen konnte, denn Ishan war ein Androide mit aldanischem Bewusstsein. Er war diskret genug, um bestimmte Tatsachen nicht zu ihrem Nachteil auszulegen. Außerdem war er Arzt und als solcher an die ärztliche Schweigepflicht gebunden, was bedeutete, dass alles, was immer die Beiden jetzt besprechen würden, niemals die Räume der Krankenstation verlassen würde. „Ich schäme mich.“, gab Zirell zu.

Ishan sah zunächst von seiner Arbeitskonsole auf, um dann zuerst seinen Blick und dann den ganzen Körper in Richtung Zirell zu bewegen. „Dann werde ich dich eben abholen.“, sagte er nüchtern und hakte die Frau, die seine Vorgesetzte war, einfach so unter, um sie zu Nidells Krankenbett zu führen.

Dort angekommen beugte sich Zirell über die medizinische Assistentin und flüsterte ihr etwas auf Tindaranisch ins Ohr, worauf sie nur ein schwaches „Hm.“, von sich gab. „Ich habe ihr gesagt, dass es mir leid tut.“, erläuterte Zirell gegenüber Ishan, der sie fragend angesehen hatte. „Ich weiß nicht, an was du dich aus deiner aldanischen Vergangenheit erinnerst, aber bei euch war es sicher auch angebracht, dass ein Kommandant sich bei den Opfern seiner Fehlentscheidungen entschuldigt hätte, wenn von Anfang an feststand, dass der erste Offizier eigentlich Recht gehabt hätte.“ „Daran kann ich mich im Augenblick nicht erinnern.“, antwortete der Arzt. „Allerdings ist es meiner Analyse nach korrekt, dass du eine Fehlentscheidung getroffen hast, als du zwei Telepathen mit IDUSA auf Patrouille geschickt hast. Du weißt, dass die Genesianer über Rosannium-Waffen verfügen und du weißt, wie unberechenbar im Moment ihr Verhalten ist. Also wäre es logisch gewesen, eine Nicht-Telepathin mit Shimar auf den Flug zu schicken und das hätte jemand sein müssen, der auf jeden Fall im Rang über ihm steht.“ „Organische Wesen handeln nicht immer logisch, Ishan.“, sagte Zirell betroffen. „Aber du hast mit allem, was du gesagt hast, Recht. Die einzige Frau, die im Rang auf dieser Station noch über Shimar steht, bin ich, obwohl ich auch Telepathin bin. Ich hätte meinen eigenen Hintern in dieses Shuttle schwingen sollen!“ In ihrem letzten Satz schwang ein gehöriger Teil Wut über sich selbst mit. „Aber ich bin wohl davon ausgegangen, dass die Genesianer unsere Rangabzeichen nicht kennen und auch keine Fragen stellen. Aber da habe ich mich gründlich geirrt. Von irgendwo her müssen sie diese Kenntnisse erhalten haben.“ „War kürzlich jemand hier auf der Station, dem du zutrauen würdest, diese Kenntnisse an die Genesianer weiterzugeben?“, fragte der Arzt. „Die einzige stationsfremde Tindaranerin in letzter Zeit war Technical Assistant Sanell.“, sagte Zirell. „Aber warum sollten sie und ihre Vorgesetzte das tun?“ „Ganz einfach.“, sagte Ishan. „Da alle Tindaraner an der Bildung der mentalen Mauer beteiligt waren, die unsere Dimension vor dem Phänomen schützen sollte, haben sie sicher auch die große Macht gespürt, mit der die Mauer zerrissen wurde. Nicht alle in deinem Volk, Zirell, sind so mutig wie du und rebellieren gegen die Zustände, zumal dann nicht, wenn diese für sie normal sind. Du darfst nicht vergessen, dass Joran nur uns temporal isolieren konnte. Der Rest war der Veränderung der Zeitlinie ausgesetzt und weiß noch nicht einmal mehr, dass es eine andere Zeitlinie gegeben hat. Vermutlich halten sie dich für verrückt.“

Zirell schluckte. Die offenen Worte ihres medizinischen Offiziers hatten sie nachdenken lassen. Vielleicht war sie wirklich zu überheblich an die Situation herangegangen und kassierte jetzt die Quittung. Es tat ihr sehr leid, wie Nidell dort lag. Aber auch über Shimars Schicksal machte sie sich Sorgen. Was würden die Genesianer wohl mit ihm anfangen. Sie wusste, dass er mit ihnen nicht biologisch kompatibel war, was ihn als Ehemann schon einmal ausscheiden ließ. Dann bliebe nur noch eines der Arbeitslager, aber körperlich hart gearbeitet hatte er ihres Wissens noch nie in seinem Leben. Das würde bedeuten, dass er das Pensum nie schaffen würde und das wiederum hieße, dass für ihn nur der Tod bliebe, ein Gedanke, der Zirell das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Ishan rückte ihr einen Stuhl zurecht, denn er sah, dass sie nahe daran war, das Gleichgewicht zu verlieren. „Worüber denkst du nach?“, fragte er. „Ich muss immer noch an meine Fehlentscheidung denken.“, sagte Zirell. „Mit Shimar werden die tindaranischen Streitkräfte einen ihrer besten Flieger verlieren und IDUSA wird den einzigen Piloten verlieren, den sie gekannt hat. Ich meine vor Joran. Aber sie hat mir neulich gesagt, dass Joran Shimar in manchen Dingen nicht das Wasser reichen kann.“ „Dass du Rücksicht auf die Befindlichkeiten eines Raumschiffes nimmst, mögen sicherlich einige sehr befremdlich finden.“, sagte Ishan. „Ich bin so aufgewachsen.“, sagte Zirell. „In der tindaranischen Rechtsprechung gelten künstliche Intelligenzen als mit den gleichen Rechten ausgestattet wie natürliche Lebensformen auch. Also, dann kannst du einer Tindaranerin eine solche Regung wohl verzeihen.“ „Sicher.“, nickte Ishan. „Ohne das wäre ich ja auch nicht der für dich, der ich heute bin.“

Er wandte sich einem Monitor zu, auf dem er einige Werte kontrollierte, bevor er wieder zu ihr zurückkehrte. „Was macht dich eigentlich so sicher, dass sie Shimar töten werden?“, fragte der Androide. „Das fragst du noch!“, sagte Zirell mit ziemlich strengem Gesichtsausdruck. „Das habe ich dir doch gerade lang und breit erklärt. Sie können nichts mit ihm anfangen. Außerdem werden sie an mir ihre Rache vollenden wollen und dazu gehört, dass sie meinen besten Flieger …“ „Dessen bin ich gar nicht so sicher!“, sagte Ishan mit Überzeugung und rief Shimars medizinische Akte in seinem Gedächtnis auf. „Du weißt, dass er motorisch sehr geschickt ist. Unter Umständen können sie ihn doch ganz gut beim Kristalleschürfen einsetzen. Körperliche Stärke ist nicht alles und er ist als Überlebenskünstler bekannt. Selbst, wenn sie ihm auch seine mentalen Fähigkeiten nähmen, würde er trotzdem zurechtkommen.“ „Was sagt dir das?!“, verhörte ihn Zirell, die seinen Worten nicht wirklich viel Glauben schenkte. „Das sagt mir sein Profil, das ich hier vor mir habe.“, antwortete Ishan. „Hoffentlich irrst du dich da nicht.“, sagte Zirell skeptisch, die wahrscheinlich aufgrund der eigenen niedrigen Stimmungslage noch keinen Optimismus zulassen konnte. „Du wirst sehen, dass ich mich nicht irre!“, sagte Ishan fest. „Außer diese Daten sind inkorrekt, was ich nicht denke. Sie haben sich nämlich seit ihrem Einstellen in den Stationsrechner nicht verändert und Shimars Gutachter waren voll des Lobes über ihn, was das Überlebenstraining anging.“ „Es ist bei Organischen nicht immer alles eine Frage der Daten, Ishan.“, sagte Zirell. „Wir handeln oft einfach auch nur emotional entgegen aller Daten. Das hast du ja bei mir gesehen.“ „Nur weil du einen Fehler gemacht hast, muss Shimar nicht das Gleiche passieren.“, widersprach Ishan. „Dass zwei zur gleichen Zeit einen ähnlich gelagerten Fehler machen, also zum Beispiel entgegen aller Daten handeln, halte ich für unwahrscheinlich.“ „Es ist nicht alles immer nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit.“, sagte Zirell. „Aber ich weiß, dass du mich nur trösten willst. Aber wegen meines schlechten Gewissens will dir das wohl einfach nicht gelingen. Vielleicht sollte ich mich auch bei Maron entschuldigen. Dann dürfte mein Gewissen um einiges leichter sein.“ „Tu das. Aus medizinischer Sicht halte ich das auch für besser für dich. Du wärst überrascht, was für körperliche Konsequenzen ein schlechtes Gewissen haben kann.“, erwiderte Ishan. Zirell nickte und verließ die Krankenstation, um ihren Ersten Offizier aufzusuchen, falls er abkömmlich war. Auch gegenüber ihm würde sie jetzt zugeben, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen hatte, die unter Umständen ein Leben kosten könnte.

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