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Tchian hatte sich jetzt öfter in der großen Halle des Hohen Rates aufgehalten, obwohl er und seinesgleichen dort eigentlich keinen Zutritt hatten. Aber die letzten Ereignisse hatten auf den Vendar-Jungen derart verstörend gewirkt, dass er dieses Verbot jetzt übertrat, um etwas mehr über die Situation an sich herauszufinden. Er hatte sich einen neuen Erfasser repliziert und scannte mit dem Gerät jetzt immer und immer wieder die wie nach oben gerichtete Tropfsteine aussehenden Felsnasen, die wohl einmal die Ratsmitglieder gewesen waren. Immer noch hoffte er, eines Tages zu sehen, wie sie sich wieder zurückverwandelten. Er wünschte sich so sehr, dass sein Ausbilder hier wäre, um ihm die Sache zu erklären, aber Diran hatte ja selbst keine Erklärung für das plötzliche irrationale Verhalten seiner Gebieterin gefunden. Die einzige Erklärung, die er hatte, war sehr ungeheuerlich gewesen und passte auch gar nicht in sein Weltbild, weshalb Diran wohl auf der anderen Seite auch froh über die Zerstörung des Erfassers, der alles hätte beweisen können, war.

Ein weißer Blitz erschreckte den Jungen. Tchian sah in die Richtung, aus der er gekommen war und erkannte Kairon, der sich vor ihm materialisiert hatte. „Bitte vergebt mir, Gebieter!“, stammelte er erschrocken. „Was soll ich dir vergeben?“, fragte Kairon freundlich und legte Tchian fast väterlich seine Hand auf die Schulter. „Soll ich dir vergeben, dass du Tag aus Tag ein hierher gekommen bist und auf meine armen bedauernswerten Freunde Acht gegeben hast? Ich wüsste nicht, dass das ein Verbrechen darstellt.“ „Ich sprach von der Tatsache, dass ich mich hier hereingeschlichen habe, Gebieter.“, sagte Tchian.

Der Novize beobachtete, wie der Mächtige die Reihen der Tropfsteine abschritt. „Könnt Ihr sie befreien, Gebieter?“, fragte er. „Nein.“, sagte Kairon. „Sytanias und Toleas Energie ist noch immer in ihnen. Erst wenn die Beiden getrennt sind oder eine andere Möglichkeit gefunden ist, werden sie wieder ihre eigentliche Gestalt bekommen können.“ „Wenigstens scheint Ihr Eure Fähigkeiten zurückzuhaben.“, tröstete sich Tchian. „Ja.“, erwiderte Kairon. „Aber ohne einige findige Sternenflottenoffiziere wäre mir das nicht vergönnt gewesen. Aber wie die Situation im Augenblick aussieht, kann ich nichts … Sie ist hier, um mich zu holen!“

Vor Tchians Augen verwandelte sich Kairon ebenfalls in eine der Felsnasen. Tchian wusste, dass dies Sytania oder Tolea nicht davon abhalten würde, ihn zu finden, denn sie könnten ihn ja schließlich spüren. Er ahnte ja nicht, wen Kairon wirklich mit der Frau gemeint hatte, die hinter ihm her war, um ihm einen Ausweg aus der für ihn ausweglos scheinenden Situation zu zeigen.

Tchey und Sharie hatten das Kontinuum erreicht. Das Schiff hatte einige Konfigurationen der Software ihres Antriebs vornehmen müssen, die alle Felder der momentanen Situation anpassten. Sonst wären sie keinen einzigen Parsec weit gekommen. „Eins ist klar.“, flapste Tchey. „Die Dimension ist total im Eimer.“ „Wie Recht du hast.“, sagte Sharie. „Und das kann nur bedeuten, dass sich das Gleichgewicht der Kräfte total verschoben hat.“ „Ganz deiner Ansicht.“, sagte Tchey. „Bring uns zur großen Halle.“ „Wie du willst.“, sagte das Schiff und übernahm die Steuerkontrolle. „Übrigens habe ich die Achterkabine schon einmal für unseren Plan vorbereitet. Die Atmosphäre dort und auch im Cockpit ist mit gasförmigem Rosannium versetzt. Das wird Kairon zwingen, uns zuzuhören. Ich schätze, dass er im Moment depressiv irgendwo in einer Ecke sitzt und grübelt, wie er mit Hilfe seiner Kräfte die Sache heilen kann. Die wird er ja auch benutzen, er muss nur kapieren, dass er das nicht allein schafft. Dazu müssen er und wir auf gleicher Ebene agieren können. Dir macht das Rosannium ja nichts, weil du Nichttelepathin bist, aber bei Kairon wird es hoffentlich einen heilsamen Schock auslösen.“ „Du kannst ja richtig fies sein.“, sagte Tchey. „Aber gut. Such seine Biozeichen!“

Tchian hatte mit seinem Erfasser die Situation außerhalb der Halle gescannt. Kairons letzte Äußerung hatte ihn nicht in Ruhe gelassen. Beruhigt hatte er festgestellt, dass weit und breit kein Zeichen von Sytania oder Tolea zu sehen war. Nur die Antriebssignatur eines merkwürdigen fremden Schiffes, das sich auf ihn zu bewegte, war ihm aufgefallen. Auch im Display seines Sprechgerätes hatte er Sharies Rufzeichen, das mit ihrem Transpondersignal übermittelt wurde, lesen können. Er konnte sich die Anwesenheit des fremden Schiffes und seiner offensichtlich reptiloiden Pilotin nicht erklären, hoffte aber inständig, von ihr Hilfe bekommen zu können, denn die Situation war für ihn extrem undurchsichtig und beängstigend geworden. Sein Ausbilder, der ihn vielleicht hätte aufklären können, war nicht da und sein Gebieter zog es vor, sich hinter der Gestalt einer Felsnase zu verstecken. Vielleicht war die Einzige, von der er Hilfe und Zuspruch erwarten konnte, ja tatsächlich diese Frau. Er beschloss, sich einfach mal bei ihr zu melden. Eigentlich war es den Vendar verboten, von sich aus Sterbliche in die Geheimnisse der Mächtigen einzuweihen. Aber wer sollte ihn richten? Also wählte er das Rufzeichen mit dem Cursor aus und bestätigte es.

„Tchey, wir werden gerufen.“, meldete Sharie. „Von wem?“, fragte Tchey platt. „Ich kann das Rufzeichen nicht einordnen.“, erklärte Sharie. „Aber seiner Kennung nach ist es ein Vendarisches.“ „Vendar?“, fragte Tchey. „Arbeiten die nicht für die Mächtigen?“ „Das tun sie.“, bestätigte das Schiff. „Aber eigentlich gibt es sehr strenge Regeln. Ungefragt dürfen sie nichts an Sterbliche weitergeben, was die Geheimnisse der Mächtigen angeht.“ „Wie kommst du darauf, dass dieser Vendar gerade das tun will?“, fragte Tchey. „Sieh mal.“, sagte Sharie und legte ihr ein Bild auf den Neurokoppler. „Ich habe das Innere der großen Halle gescannt.“, sagte sie. „Du wirst gleich feststellen, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich habe den Verdacht, dass dieser Vendar irgendetwas darüber weiß und von uns Hilfe erwartet.“

Tchey schaute sich die Bilder genau an. „Du bist sicher, dass du mir hier nicht einfach irgendeine Tropfsteinhöhle zeigst?“, erkundigte sie sich ungläubig. „Ich bin mir verdammt sicher!“, erwiderte Sharie. „Das heißt also, Tolea und Sytania haben sie tatsächlich überrascht!“, stellte Tchey fest. „Was macht unser Vendar?“ „Der versucht immer noch, mit uns Kontakt aufzunehmen.“, antwortete Sharie. „Dann stell ihn durch.“, entgegnete Tchey.

Sie war überrascht, in ein so junges Gesicht zu sehen, das ihr bald auf dem Neurokoppler präsentiert wurde. „Mein Name ist Tchian.“, stellte der Junge sich bei ihr vor. „Hi! Ich bin die Tchey.“, antwortete sie. „Was hast du denn auf dem Herzen, Tchian?“ „Ich kann die Welt nicht mehr verstehen, Tchey!“, sagte Tchian mit ängstlicher Stimme. „Alle Mitglieder des Hohen Rates sind wohl von Tolea und Sytania in Felsnasen verwandelt worden. Sie müssen sie überrascht haben.“ „Ist Kairon bei dir?“, fragte Tchey. „Ich glaube nämlich, dass mein Schiff und ich eine Möglichkeit gefunden haben, das hier zu beenden, aber er muss uns zuhören.“ „Mein Gebieter ist hier.“, sagte der halbwüchsige Vendar. „Aber du wirst ihn nicht von den anderen unterscheiden können. Er hat sich ebenfalls zu einer Felsnase gemacht, um dir zu entkommen. Er ist zu verzweifelt, um noch Hilfe von anderen anzunehmen.“ „Dann sag mir, welche Felsnase es ist, Tchian.“, sagte Tchey. „Wir werden ihn an Bord beamen und dann wird es sich was haben mit der Verwandlung.“ „Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, Tchey.“, entgegnete der Jugendliche. „Aber selbst für meinen Erfasser sieht eine Felsnase wie die andere aus.“ „Dann machen wir das anders.“, sagte Tchey. „Mein Schiff kann ziemlich genau scannen. Vielleicht findet sie ihn.“

„Tchian hat Recht, Tchey.“, sagte Sharie. „Wenn ich einen von ihnen scanne, während er eine Felsnase ist, dann sehe auch ich eine Felsnase. Aber wenn sich Kairon vor uns verstecken will, dann wird er das auch weiter tun, wenn wir ihm signalisieren, dass wir seinen Plan durchschaut haben.“ „Aber klar, Sharie.“, überlegte Tchey. „Tu so, als wolltest du eine Transportererfassung vornehmen. Dann muss er ja befürchten, dass er dran ist und wird sich in etwas anderes verwandeln und schwupp! Wir haben ihn.“

Sharie ging über der Halle in Sinkflug und richtete ihre Transporter auf eine der Felsnasen aus. Tatsächlich gab es einen weißen Blitz und eine der Nasen fehlte bald. „Kairon muss sich in etwas anderes verwandelt haben, Tchey.“, sagte Tchian. „Das habe ich auch gesehen.“, antwortete die Reptiloide. „Aber in was?“

Tchian überlegte, wie er seiner neuen Verbündeten das Auffinden Kairons erleichtern könnte. Er wusste, dass der Mächtige sich jetzt genau so gut in einen Baum, wie in einen Grashalm verwandelt haben konnte. Davon gab es hier nämlich sehr viele und er würde dann nicht herausstechen. Der Vendar-Junge hoffte so sehr, dass er irgendetwas tun konnte. Aber …

Ihm war etwas aufgefallen. Immer dann, wenn sein Gebieter sich verwandelte, musste er sich doch konzentrieren. Das musste doch Energiespitzen nach sich ziehen, die sonst kein weiteres Objekt absonderte.

Er stellte den Erfasser auf aktives Scannen und ging herum. Tatsächlich fand er bald Reste der vermuteten Energiespitzen in einem Baum. Tchian schloss seinen Erfasser an sein Sprechgerät an und übermittelte Sharie die Daten.

„Sieht aus, als würde uns der Kleine doch noch helfen können.“, stellte das Schiff fest. „Was meinst du damit?“, sagte Tchey. „Tchian hat uns gerade eine Datei mit einem Bild übermittelt.“, sagte Sharie. „Das Bild ist eine Energiespitze. Die entstehen immer dann, wenn Mächtige sich konzentrieren.“ „Wow.“, machte Tchey. „Warum sind wir da nicht drauf gekommen? Such die verdammte Spitze, Sharie! Jetzt haben wir ihn!“

Kairon war bewusst, dass er in dieser Gestalt nicht lange verbleiben konnte, denn er hatte längst bemerkt, dass Tchey und Sharie ihm auf der Spur waren. Obwohl er eigentlich vom Talent der Sterblichen, Probleme zu lösen, sehr überzeugt war, glaubte er nicht, dass sie ihm dieses Mal würden helfen können. Das Problem war im Kreise der Mächtigen entstanden und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sterbliche es lösen könnten. Er würde gegen seine Schwester und Sytania allein ins Feld ziehen müssen. Zumindest dachte er das und verwandelte sich daher von einem Baum in eine Wiesenblume, was er im gleichen Moment bitter bereute, da Sharie die entstandene Energiespitze zur Etablierung einer Transportererfassung genutzt hatte. Da die Atmosphäre im Cockpit und in der Achterkabine mit Rosannium versetzt war, wurde die Verwandlung auch bald von allein rückgängig und vor ihr stand Kairon in seiner eigentlichen Gestalt. „Allrounder!“, sprach er sie überrascht an, denn er kannte sie noch, als sie noch für die Sternenflotte arbeitete. „Wie haben Sie mich gefunden und vor allen Dingen, wie haben Sie mich zurückverwandelt?“ „Rosannium!“, sagte Tchey streng. „Sie mögen denken, dass es keinen Ausweg mehr gibt, Kairon. Aber Sharie und ich kennen einen.“

Sie zog einen zweiten Neurokoppler unter der Konsole hervor. „Setzen Sie den auf!“, sagte sie. „Sonst werden Sie nicht sehen, was Sharie für Sie geplant hat.“ „Wie wollen Sie denn unsere Probleme lösen, Allrounder?“, fragte Kairon. „Sie können weder die anderen zurückverwandeln, noch können Sie Sytania und Tolea voneinander trennen.“ „Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht, Kairon.“, lachte Tchey. „Gerade Sie und Tolea, zumindest, wenn ihr Verstand nicht völlig von Sytania eingenebelt ist, sind doch sonst immer so überzeugt von unseren Talenten gewesen. Wer weiß, vielleicht finden wir ja auch dieses Mal einen Weg. Sharie, zeig ihm die Simulation!“

Das Schiff zeigte Kairon die Simulation des Duells, die sie erstellt hatte. „Sie meinen wirklich, das könnte gehen?“, sagte Kairon. „Oh, ja.“, meinte Tchey. „Ich bin sogar verdammt sicher. Sehen Sie, Kairon. Wenn wir Tolea zu einem Duell um die Wahrheit herausfordern, wird Sytania sich heraushalten, denn sie würde ja befürchten, dass wir ihr draufkommen. Sharie wird nämlich alles aufzeichnen.“ „Das kann ja sein.“, sagte Kairon, der das Ganze immer noch nicht wirklich gut heißen konnte. „Aber ich habe einen Vorschlag. Sie behaupten ja auch, Sie könnten den Hohen Rat retten. Sollte Ihnen das gelingen, wäre ich für einen Versuch bereit.“ „Na schön.“, sagte Tchey. Dann wandte sie sich an Sharie: „Repliziere mir zwei Hyporen mit je einer Rosannium-Patrone und dann verbinde mich mit Tchian!“ „OK.“, sagte Sharie und führte ihre Befehle aus. „Sie wollen Rosannium einsetzen, um meine Leute zu retten?“, fragte Kairon irritiert. „Genau das.“, sagte Tchey kalt. „Die Dosis macht das Gift, Kairon. Ich werde ihnen nur so viel spritzen, dass es ausreicht, um Sytanias und Toleas Energie zu tilgen. Dann müssten sie sich ja eigentlich wieder in ihre ursprüngliche Gestalt verwandeln, denn sie wurden ja nicht als Felsnasen geboren.“ „Woher haben Sie Informationen für so waghalsige Theorien.“, fragte Kairon. „Ich fliege das Rettungsshuttle.“, sagte Tchey cool. „Da musste ich einen kleinen medizinischen Kurs absolvieren. Ich weiß, die Chance steht 50 zu 50, dass das hier in die Binsen geht, aber 50 % Chance sind in diesem Falle ein Angebot, das ich nicht ausschlagen werde.“

Ein Lämpchen machte Tchey auf das Auswurffach des Replikators ihres Schiffes aufmerksam. „Ah, danke, Sharie.“, lächelte sie und entnahm die Geräte, die ihr Schiff dort deponiert hatte. „Deine Verbindung habe ich auch.“, sagte Sharie. „OK.“, sagte Tchey. „Dann gib ihn her.“

Auf dem virtuellen Schirm vor Tcheys geistigem Auge erschien das erwartungsvolle Gesicht Tchians. „Ich werde deine Hilfe benötigen, Tchian.“, erklärte Tchey. „Ich komme gleich zu dir runter und dann werden wir gemeinsam den Hohen Rat erlösen! Wie findest du das?“ „Wie willst du das machen, Tchey?“, fragte der verzweifelte junge Vendar. „Wie solltest du als Sterbliche ihnen helfen können, wenn sie sich noch nicht einmal selbst helfen können?“ „Abwarten.“, sagte die Reptiloide ruhig und begann, die Hyporen auf eine geringe Dosis Rosannium einzustellen, nachdem sie die Patronen aufgesteckt hatte. „Ich werde jetzt runter gehen.“, sagte sie und stand auf. „Pass auf unseren Q auf, Sharie, damit er keinen Unsinn macht. Aber halt ihn auf dem Laufenden.“ „Du kannst dich auf mich verlassen, Tchey.“, lächelte Sharie. „OK.“, sagte Tchey und legte den Neurokoppler ab. „Dann beam’ mich zu Tchian!“

Der Vendar-Junge hatte neugierig die Gestalt beobachtet, die sich vor ihm materialisiert hatte. Jetzt sah er zu, wie sie sich ihm näherte, um ihm im gleichen Moment, in dem sich ihre Hände zur Begrüßung begegneten, einen Hypor in die Hand zu drücken. „Hi, Tchian.“, sagte Tchey. „Ich bin’s. Wir sollten keine Zeit verlieren. Lass uns am besten gleich in die große Halle gehen und die Mächtigen aus ihrem Knebel befreien!“ „Was ist in den Hyporen, Tchey?“, fragte Tchian ernst. „OH, da will es aber jemand ganz genau wissen.“, erwiderte die Reptiloide lächelnd. „Aber krieg jetzt bitte keinen Schreck. In den Dingern ist Rosannium.“ „Rosannium?“, fragte Tchian erschrocken. „Bist du sicher, dass das die richtige Medizin ist, Tchey?!“ „Jops!“, meinte Tchey und machte ein lässiges Gesicht. „Hör mal zu. Wir müssen die Energie von Sytania und Tolea aus ihnen entfernen. Dazu spritzen wir ihnen eine geringe Dosis Rosannium. Dann müssten sie sich eigentlich wieder in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandeln.“ „Du sagst, dass sie das müssten.“, erwiderte Tchian. „Aber du bist dir nicht sicher, dass sie es werden.“ „Ich gebe zu, es ist nur eine Theorie von mir.“, sagte Tchey. „Aber in früheren Zeiten wurde auch Schlangengift in der Medizin verwendet, um Heilung zu erreichen. Vielleicht ist es ja bei Rosannium ähnlich.“ „Aber sie könnten auch daran sterben.“, befürchtete Tchian. „Wir haben eine Chance von 50 zu 50 und die würde ich gern nutzen!“, sagte Tchey energisch und drehte sich Richtung Halle. Dann setzte sie sich ebenso energisch in Bewegung. So energisch, dass Tchian Mühe hatte, ihr zu folgen. „Du bist sehr risikofreudig, Tchey.“, stellte der Junge atemlos fest. „Ach, bin ich das?“, entgegnete Tchey naseweis. „Dann stehe ich ja Tom Paris in nichts nach.“ Nachdenklich legte Tchian die Stirn in Falten. Zu gern hätte er gewusst, wer Tom Paris war, wagte aber nicht, sie nach diesem Mann zu fragen, denn er dachte sich, dass sie ihm so schnell keine Erklärung geben würde, da sie heilfroh war, dass sie ihn hatte ablenken können.

Sie durchschritten den Torbogen und standen jetzt vor den Felsnasen. „Wir können froh sein, dass man bei den heutigen Hyporen keine Nadeln mehr benutzt, sondern das Medikament gebeamt wird. Sonst hätten wir keine Chance.“, scherzte Tchey. Tchian ging nicht auf ihren Spaß ein. Er hatte zu viel Angst, um jetzt an etwas anderes als an die Konsequenzen der Gabe von Rosannium für die Mächtigen zu denken. „Sieht mein Gebieter uns von deinem Schiff aus zu?“, fragte er. „Worauf du dich verlassen kannst.“, sagte Tchey. „Sharie kennt ihre Befehle. Sie weiß, dass sie ihm alles zeigen soll, was wir hier veranstalten. Ich kann mir denken, dass er sich im Stillen erhofft, dass unsere Aktion ohne Wirkung bleibt, damit er seinen Teil der Vereinbarung nicht erfüllen muss. Aber da hat er sich geschnitten.“

Sie griff Tchians Hand und zog ihn zu einem zentral gelegenen Fleck in der Mitte der Halle. „Du gehst nach rechts, ich gehe nach links.“, teilte Tchey ein. „Such dir irgendeine Stelle an einer Felsnase und drück auf den großen runden Knopf am Bedienelement des Hypors. Dann wartest du auf ein kurzes Piepsignal und gehst weiter. Es ist wichtig, dass jeder nur eine Dosis erhält. Hast du verstanden?“ Tchian nickte. „OK.“, sagte Tchey, die sich bereits in Position zu einer der Felsnasen gestellt hatte. „Dann los!“

Kairon hatte alles von Sharie auf dem Silbertablett serviert bekommen. Das Schiff hatte die Atmosphäre noch nicht wieder von dem Rosannium gereinigt, so dass Kairon, selbst wenn er es gewollt hätte, seine Kräfte nicht benutzen konnte, um sich still und heimlich davonzumachen. „Hör mal, Schiff.“, wendete er sich schließlich an Sharie. „Wie stehst du eigentlich zu Tcheys Aktion? Ich hoffe, du hast die Befehle nicht nur ausgeführt, weil sie …“ „Ich heiße Sharie.“, unterbrach sie. „Und nein, ich habe die Befehle meiner Pilotin nicht ohne Nachdenken ausgeführt. Mir leuchtet durchaus ein, was Tchey gesagt hat. Mir scheint, Sie suchen nur nach einer Möglichkeit, aus der Nummer wieder herauszukommen, Kairon. Sonst hätten Sie ja den Vorschlag sicher nicht gemacht. Aber Sie müssen sich nicht sorgen.“ „Was mich verwirrt, Sharie.“, erklärte der Mächtige. „Ist die Tatsache, dass du und Tchey so sicher seid, dass die Aktion klappen wird. Ich meine, was ist, wenn entgegen deiner Simulation sich Sytania komplett anders verhält. Was ist, wenn sie meiner Schwester doch hilft?“ „Dann liefe sie Gefahr, dass wir sie an den nicht vorhandenen Eiern hätten.“, sagte Sharie salopp. „Ein Zustand, den sie sicher nicht gern herbeiführen will. Was wir mit ihr machen würden, ist sicher noch harmlos im Gegensatz zu den Maßnahmen der Genesianer!“ „Also wirklich!“, meinte Kairon ob ihrer Ausdrucksweise.

Tchian hatte an Hand der Anzeige seines Hypors festgestellt, dass er leer war. Alle Felsnasen in seinem Bereich hatten ihre Dosis abbekommen und so kehrte er zu Tchey zurück, die ebenfalls mit ihrer Arbeit fertig war. „Noch einmal.“, sagte er. „Ich habe extremes Muffensausen!“ „Ach, dann sind wir ja schon zwei.“, flapste Tchey. „Was?“, fragte Tchian. „Du hast auch Angst? Ich dachte, du wärst dir deiner so sicher.“ „Ja, ja.“, sagte Tchey. „In gewisser Hinsicht ja, in gewisser Hinsicht auch nein. Wie gesagt, die Chance ist 50 zu 50, dass …“

Sie hatte das Signal ihres Sprechgerätes wahrgenommen und zog es aus der Tasche. Im Display konnte sie Sharies Rufzeichen ablesen. „Was ist, Sharie?“, fragte sie. „Ich kann noch nicht genau sagen, was du erreicht hast.“, sagte das Schiff. „Aber laut meinen Sensoren verändern bereits einige der Felsnasen ihre strukturelle Integrität.“

Tchey fuhr herum und Tchian sah auch neugierig in ihre Richtung. „Dein Schiff hat Recht.“, sagte der kleine Vendar, dessen scharfe Augen tatsächlich bald die Nasen entdeckt hatten, von denen Sharie gesprochen haben musste. „Es sieht aus, als würden sie schmelzen oder so.“

Mit alarmiertem Gesicht zog Tchey ihren Erfasser und scannte in seine Richtung. Viel konnte das Interpretationsprogramm des Gerätes mit der Situation, die sich ihm bot, auch nicht anfangen, denn es hatte ja noch nie so etwas gesehen. Auch Tchey selbst wusste nicht, wie sie die Werte einordnen sollte. „Was passiert hier?!“, fragte Tchian ängstlich. „Willst du die Wahrheit, oder eine diplomatische Antwort?“, fragte Tchey. „Die Wahrheit.“, sagte Tchian und griff nach ihrer freien linken Hand. In der Rechten hielt sie ja den Erfasser. „Na schön.“, sagte Tchey. „Die Wahrheit ist: Ich habe keinen blassen Schimmer.“

„Sterbliche!“ Eine heisere Stimme aus einer der Reihen hatte Tchey dies zugerufen. Sie drehte sich in die Richtung und erkannte, dass derjenige, dem Tchian zuerst eine Spritze gegeben hatte, sich in eine humanoide Gestalt verwandelt hatte. Vor ihr stand ein großer etwas dickerer Mann von ca. 1,80 m Größe mit einem Schnauzbart und braunen Haaren, der in einen feinen Anzug gekleidet war.

„Nimm den Erfasser und scanne die anderen.“, zischte sie Tchian zu. „Ich will mich mit ihm unterhalten.“ Der Junge nickte und nahm das eingestellte Gerät aus ihrer Hand entgegen. „Du musst nichts tun, um seine Anwesenheit hier irgendwie zu erklären.“, sagte der Dicke und lächelte Tchey gewinnend an. „Ich für meinen Teil bin heilfroh, dass du und er euch hier getroffen habt, um uns zu helfen. Da kann ich auch mal über die Tatsache hinwegsehen, dass ein Vendar ungefragt die große Halle betreten hat.“ Er sah sich um. „Anscheinend hat deine Aktion wohl Früchte getragen. Die anderen scheinen auch wieder die zu werden, die sie einst waren. Auf so eine Aktion wäre ich nicht gekommen. Bisher galt Rosannium bei uns immer als Teufelszeug. Aber anscheinend ist es die richtige Anwendung in den richtigen Händen, die aus einem Fluch auch einen Segen machen kann.“

Tchian war mit dem Erfasser zu Tchey zurückgekehrt. Gleichzeitig war ein Aufatmen durch die Ratsmitglieder gegangen, die wohl auch froh waren, dass jemand sie aus ihrer misslichen Lage befreit hatte. „Tchey Neran!“, sagte eine der Frauen im Hohen Rat schließlich. „Meine Freundin Tolea hat mir schon viel über dich erzählt, aber dass du so einen verwegenen Plan hättest, das hätte selbst sie nicht für möglich gehalten. Ich konnte mir schon denken, dass so ein waghalsiges Experiment nur unter deinem Kommando stehen kann.“ „Da sagen Sie was, Miss.“, meinte Tchey. „Tolea wäre das nächste Thema, das wir in Angriff nehmen müssen. Aber der ganze Plan kommt auch nicht von mir. Mein Schiff hat … Ach, das erzähle ich in einer stillen Stunde. Wichtiger ist jetzt, dass wir Tolea deutlich machen, dass ihr Bruder Kairon sie nochmals zum Duell fordern wird. Aber dieses Mal wird es ein Duell um die Wahrheit. Wir werden sie beschuldigen, mit Sytania zusammenzuarbeiten und wir werden sagen, dass ihr Sieg nur möglich war, weil Sytania ihr geholfen hat. Wenn sie das verleugnet, soll sie es uns gern beweisen. Sytania wird sich fein raushalten, denn sie wird nicht riskieren wollen, dass man ihr auf die Schliche kommt.“

Ein Raunen ging durch die Reihen. Dann sagte der dicke Mann: „Wir werden sehen, was Kairon davon hält. Wo ist er jetzt?“ „An Bord meines Schiffes.“, sagte Tchey. „Aber ich kann gern dafür sorgen, dass er herkommt.“ Damit zog sie ihr Sprechgerät: „Sharie, beam’ Kairon her!“

Staunend beobachteten alle die Materialisierung ihres abgeschriebenen Kollegen. „Machen wir es kurz.“, sagte der Dicke in Kairons Richtung. „Da du ihren Plan ja sicher kennst, brauchen wir ja nur noch zu klären, ob du damit einverstanden bist.“ „Das bin ich.“, sagte Kairon und lächelte Tchey an. „Tolea und Sytania muss eindeutig das Handwerk gelegt werden.“ „Dann sei es so.“, sagte der Dicke, dessen Äußerung alle anderen mit einem Kopfnicken bestätigten. „Ich werde Tolea eine telepathische Botschaft hinterlassen.“, sagte Kairon. „Oh, ich schätze, das wird nicht nötig sein.“, meinte Tchey. „Wie ich Tolea kenne, wird sie das alles hier schon längst beobachtet haben und sicher bald hier aufschlagen. Ihre Herausforderung wird sie sich doch nicht entgehen lassen, Kairon.“ „Davon gehe ich auch aus.“, sagte Kairon. „Zumal sie sicher nicht gedacht hätte, dass ich jemals wieder so weit komme.“

Ende des 1. Teils

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