Shimar, Scotty und ich waren bei Ginallas Kneipe angekommen. Scotty stellte den Jeep ab und wir stiegen gemeinsam aus. „Wir sollten versuchen, Ginalla zu überraschen.“, schlug Shimar mit einem gehörigen Schalk im Nacken vor. „Sie wird sicher ihren Augen nicht trauen.“ „OK.“, sagte Scotty lächelnd. „Ich kenne sogar den Weg zum Hintereingang.“
Wir gingen also hinten herum so zu sagen durch die kalte Küche. Tatsächlich traute Ginalla ihren Augen nicht, als sie uns sah. Schon an der Tür empfing sie uns mit den Worten: „Mann, ich kann’s ja gar nich’ fassen, dass ihr tatsächlich alle drei hier seid. Darauf muss ich erst mal selber Einen heben. Kommt mit! Die Rückkehr alter Freunde muss schließlich gebührend gefeiert werden!“ „Dass du dich noch erinnerst.“, sagte Shimar verwundert. „Warum sollte ich das nich’, Soldat.“, scherzte Ginalla. „Ich hab’ den Tag herbeigesehnt, an dem wir uns mal wieder über den Weg laufen. Was hab’ ich euch vermisst!“
Sie spazierte voran und führte uns hinter den Tresen in jenen Raum, in dem sie auch mit Scotty gesessen hatte, um seine Probleme zu besprechen. „Setzt euch.“, sagte sie. „Dieser Raum is’ nur was für die Prominenz.“ „Also schön.“, sagte Shimar und führte mich zu einer Sitzgelegenheit. „Ich bin gleich wieder da.“, schnippte Ginalla und war auf und davon. Wenn sie mit uns über alte Zeiten reden wollte, hatte ich ein gewaltiges Problem! Es gab Dinge, an die ich mich als Einzige erinnerte, die aber niemand sonst wissen durfte. Ich würde mich also gehörig zusammenreißen müssen. Mein Benehmen als Sternenflottenoffizierin würde jetzt arg auf die Probe gestellt werden.
Sie war zurück und hatte ein riesiges Tablett bei sich. Darauf befanden sich Schüsseln und Teller sowie Gläser und Flaschen, die mit allerlei Köstlichkeiten gefüllt waren. Das Tablett wurde von ihr auf dem Tisch abgestellt und in seine Mitte geschoben. Dann setzte sie sich selbst auf einen Stuhl und begann damit, für uns drei aus einer Flasche einzugießen. Dann schob sie Scotty, Shimar und mir je eines der Gläser hin, bevor sie sich selbst das Letzte nahm, um sich auch einzugießen. „Das dynamische Quartett wieder vereint!“, sagte sie mit einem genießerischen Blick. „Ich kann’s nich’ fassen! Na ja. Auf eine coole Zusammenarbeit!“ Wir prosteten uns zu. „Was meint sie mit Zusammenarbeit?“, zischte Shimar Scotty zu, der ganz schön ins Schwimmen geriet. Hatte er doch mit ihr einen Deal geschlossen, der ihn verpflichten würde, ihr in jedem Fall alles zu berichten und dafür zu sorgen, dass sie früher oder später in die Sache eingebunden würde. „Ich weiß nich’.“, flapste Scotty ebenso leise zurück. „Aber das sagt man halt so.“ Dass er gelogen hatte, war dem jungen Telepathen nicht verborgen geblieben, aber Shimar ließ sich nichts anmerken. Gern hätte er herausbekommen, was zwischen der Celsianerin und dem Terraner eigentlich gespielt wurde, erinnerte sich aber daran, was er versprochen hatte und was auch der Grundsatz aller Tindaraner war. Er würde nie in einen fremden Geist ohne Einverständnis eindringen.
Mein sensibles Gespür hatte mir gesagt, dass hier Spannung in der Luft lag. Wenn ich diese nicht auf der Stelle entschärfen würde, könnten vielleicht Dinge passieren, die wir alle vier später sehr bereuen könnten. Ich überlegte, wie ich die Situation lösen konnte und beschloss, meine Behinderung dafür zu benutzen. Ich nahm mir also einen Teller vom Tablett und tat, als würde ich mich gleich auf den Inhalt stürzen wollen. „Halt, Kleines!“, rief Shimar aus und nahm mir Teller und Besteck zunächst wieder fort. „Du weißt ja gar nicht, was du da isst. Du magst doch keine Überraschungen. Schon vergessen?“ Das hatte ich natürlich nicht vergessen und ich wusste, dass er Recht hatte. Natürlich hatte er das und natürlich wusste ich dies. Aber genau das war ja auch mein Plan gewesen. „Wärst du dann vielleicht so süß und würdest mir verraten, was das ist?“, fragte ich mit spitzen Lippen.
Minuten lang starrte Shimar auf den Teller. Dann sagte er: „Ich glaube, es handelt sich um klingonische Blutpastete.“ Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Aber damit war ich wohl nicht allein. Auch Scotty und Shimar schienen das Gleiche zu verspüren. „Ich glaube, Ginalla.“, sagte Scotty. „Das klingonische Zeug nimmst du besser wieder weg. Das mag glaub’ ich keiner von uns. Oder stehst du etwa selbst drauf?“
Erst jetzt schien Ginalla zu bemerken, was ihr da eigentlich für ein Fehler unterlaufen war. „Ach du liebes Lottchen.“, meinte sie. „Da hab’ ich doch glatt die beiden Replikatorprogramme verwechselt! Wisst ihr, übermorgen kommt eine klingonische Hochzeitsgesellschaft. Für die habe ich das Essen schon einmal vorgebucht und in ein eigenes Programm gespeichert. Ich muss mich wohl verlesen haben, als ich die Programme auswählte. War meine Schuld! Sorry.“ Eilig entfernte sie das Tablett. „Ich helfe dir.“, sagte Scotty und stand auf. „Kommt nich’ in Frage.“, flapste sie zurück. „Du bist schließlich hier Gast.“ „Ich habe aber das dringende Bedürfnis dir zu helfen.“, widersprach mein Mann. „Wenn’s denn sein muss.“, stöhnte Ginalla und winkte ihm langsam und gelangweilt. Dann verschwanden beide mit dem Tablett in Richtung Gastraum.
Mich hatte ein merkwürdiges Gefühl beschlichen. Warum waren die Beiden so geheimnisvoll? Was war zwischen Scotty und ihr los? Bei meiner Beurteilung von Ginallas eventueller Eignung, uns bei was auch immer behilflich sein zu können, musste ich vom Stand einer Ginalla ausgehen, wie ich sie auf der Hochzeit der Miray kennen gelernt hatte. Die Ginalla, die laut meinem Wissen einen großen Beitrag zur Wiederherstellung der Geschichte geleistet hatte, durfte ich nicht als Maßstab ansetzen, denn streng genommen hatte es sie ja nie gegeben. „Was ist mit dir, Kleines?“, fragte Shimar, der wohl bemerkt hatte, was für einen innerlichen Kampf ich mit mir ausfocht. „Ach.“, sagte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. „Ich glaube, ich bin einfach nur total kaputt. Lass uns Ginalla fragen, wo unser Zimmer ist. Ich würde mich am liebsten auf der Stelle hinlegen.“ „OK.“, sagte er und legte stützend seinen rechten Arm um meine Schultern.
Ginalla und Scotty waren erneut mit einem Tablett zurückgekehrt. Auf diesem befanden sich ebenfalls Gläser, Flaschen, Teller und Schüsseln, aber es war wohl definitiv keine Blutpastete oder Ähnliches dabei. „Was für ein Glück, dass sie bemerkt hat, dass du uns das falsche Essen servieren wolltest, Ginalla.“, sagte Shimar, um das Thema auf mich zu lenken. „Sonst hätten die Klingonen übermorgen in die Röhre geguckt und ich glaube, das mögen sie gar nicht.“ „Ich hab’ doch gar nicht.“, sagte ich leise. „Vielleicht nicht absichtlich.“, meinte Shimar. „Aber durch dein Missgeschick sind wir doch erst darauf gekommen.“ „Würde ich auch mal behaupten.“, nickte Ginalla. „Aber nun eben Zuprosten die Zweite.“ „Lass mich vorher noch was sagen.“, setzte Scotty zu einem Witz an. Wir alle spitzten gespannt die Ohren. „Wenn die Klingonen in die Röhre geschaut hätten.“, begann Scotty. „Dann wäre das für sie verdammt schlecht gewesen. Mit einem Tunnelblick jagt und schießt es sich ja so schlecht.“ Ich musste grinsen, aber Shimar und Ginalla gaben einen abschätzigen Laut von sich. „Deine Witze waren auch schon mal besser, Kumpel.“, meinte die junge kesse Celsianerin. „Tut mir leid.“, sagte Scotty. „Ich hab’ wohl noch nich’ wieder zu meiner alten Form zurückgefunden.“
Ich gähnte und flüsterte Shimar etwas auf Tindaranisch ins Ohr. Darauf stand er auf und meinte in Ginallas Richtung: „Es war ein langer Tag. Ich halte es für besser, wenn wir uns alle hinlegen. Ginalla, Scotty meinte, er hätte das mit dem Zimmer schon geregelt. Wo ist …“ „Na gut, ihr Partybremsen.“, witzelte Ginalla. „Obwohl ich nich’ ganz kapiere, warum ihr euch schon schlafen legen wollt, wo die Nacht doch noch gar nich’ angefangen hat. Aber ich bin ja eine gute Gastgeberin. Dann kommt mal mit.“
Durch einen Nebenausgang verließen wir den Raum und waren bald im Flur. Ginalla führte uns zu einem Turbolift. Hier gab sie als Fahrziel den vierten Stock an. Wenn ich damals schon geahnt hätte, wen ich als Nachbarn bekommen würde, wäre ich sicher nicht so überrascht von dem gewesen, was mich noch erwarten sollte.
Wir entstiegen dem Lift und gingen einen langen Gang herunter, der rechts und links mit weichen Teppichen an den Wenden verziert war, die allerlei sommerliche Motive zeigten. Vor einem der Wandteppiche blieb Shimar stehen und übermittelte mir grinsend das Bild, das er darauf sah. Auf dem Bild war eine Familie beim Eisessen zu sehen, die offensichtlich von einem großen weißen Hund begleitet wurde, dessen Zunge immer näher an das Eis des Kindes heranzukommen schien. Die Familie selbst war in bunte Sommerkleider gekleidet. Es handelte sich offensichtlich um Terraner. „Wie süß!“, quietschte ich leise. Zumal ich das Gefühl hatte, das Kind würde ziemlich verträumt dreinschauen und den eventuellen Diebstahlversuch gar nicht bemerken. „Ich wusste, dass es dir gefällt.“, lächelte Shimar.
Ginalla und Scotty waren bereits vor unserer Zimmertür eingetroffen und sie hatte begonnen, die Schlüsselkarten zu verteilen. „Da seid ihr ja, ihr Nachzügler.“, lächelte sie uns zu, als wir uns auch dazugesellt hatten. Dann führte sie uns alle drei in den Raum. Hier gab es neben der Tür ein Sprechanlagenterminal, was mir sofort auffiel. Wenn man sich an der Wand weiter orientierte, kam der Abzweig ins Bad. Daneben an der Rückwand ein Schreibtisch mit drei Stühlen.
Ich wollte gerade die dritte Wand inspizieren, als mich etwas in die Luft und dann auf einen weichen Gegenstand warf, der sich in der Mitte des Zimmers befand. „Hey, Shimar!“, äußerte ich meinen Verdacht. „Das war so …“ „Ich weiß.“, grinste er. „Aber du weißt ja, dass ich dich nicht fallen lasse, Kleines.“ „Ich weiß.“, sagte ich und erkannte, dass ich mich auf einem riesigen Bett befand, in dem wir drei gut Platz finden würden.
„Hier kommt Testobjekt Nummer eins!“, rief Shimar und warf eine weiche Decke über mich. „Sag uns einfach, welche Decke und welches Kissen du als das Weichste empfindest.“, sagte Scotty und hob mit der Rechten meinen Kopf, um mit der Linken ein Kissen darunter zu schieben. „Das Weichste soll deins sein. Wir kommen mit der harten Realität schon klar.“, meinte Scotty. „Ihr seid so süß!“, schmeichelte ich. Aber ich fand, dass das Verwöhnprogramm ruhig noch eine Weile so weiter gehen konnte. Wenn die Beiden so weiter machten, würde ich meine Angst um unser aller Sicherheit bestimmt für eine Weile vergessen können. Das war sicher auch in Cupernicas Sinn, die mir diesen Urlaub ja in gewisser Weise verschrieben hatte.
Die Antisternenflotte hatte der Antinugura ihre Schlappe mitgeteilt. Die Präsidentin der bösen Föderation war nicht gerade froh über diesen Umstand. „Wie konnte das passieren, Mikel?!“, fragte sie den ersten Offizier der Antigranger streng. „Das können wir uns auch nicht erklären, Madam President.“, gab Mikel kleinlaut zu. „Auf einmal waren da diese Schiffe.“ „Schiffe?!“, echote die Antinugura empört. „Was für Schiffe?!“ „Genau wissen wir das nicht.“, sagte Mikel und versuchte dabei, sie irgendwie zu beschwichtigen. „Sie kamen aus einer Partikelfontäne.“ „Dann kann ich mir denken, Sie Beispiel an Inkompetenz, woher sie kamen und was das für Schiffe waren!“, schäumte die Präsidentin. „Es wird sich um selbstständig denkende Schiffe handeln, zu denen das Schiff von Allrounder Betsy Scott unterwegs war! Wo ist es jetzt?“
Mikel musste schlucken. Ihr gegenüber zuzugeben, dass er sie aus den Augen verloren hatte, würde sie nur noch wütender machen. Aber sie wusste zu viel, als dass es ihm noch möglich sein konnte, sie zu belügen. Er wusste nicht, was er tun sollte. „Wo ist sie jetzt?!“, wiederholte die böse Nugura ihre Frage und setzte ihm somit weiterhin gehörig die Pistole auf die Brust. „Sie muss in der Dimension der Schiffe sein.“, vermutete Mikel. „Wir haben sie nämlich leider aus den Augen verloren. Ein Teil der Schiffe hat uns in einen Kampf verwickelt. Ich vermute, dass ein anderer Teil, oder vielleicht nur ein einzelnes Schiff, sie dann verschwinden lassen hat.“ „Sie vermuten, Agent!“, schrie Nugura. „Sie vermuten! Wenn ich das schon höre! Sie haben die gleichen Informationen wie Ihr gutes Gegenstück und einen viel stärkeren Willen. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell aufgeben und außerdem: Sie wissen doch viel genauer, als Sie jetzt zugeben, was das für Schiffe waren und was ihr Plan war!“ „Das stimmt eigentlich auch, Madam President.“, sagte Mikel. „Aber ich habe, ganz offen gesagt, den Eindruck, dass irgendwas nicht stimmt.“ „Was meinen Sie damit?“, fragte die Antinugura. „Reden Sie gefälligst nicht immer um den heißen Brei!“ „Ich meine, dass es mir nicht ganz gelingt, meinem guten Ich seine Willenskraft und Energie zu nehmen. Ich glaube, er kann mich irgendwie bekämpfen. Ich kann mir auch schon denken, wie das vonstatten geht. Er weiß eine Menge über Telepathie und dergleichen. Es könnte sein, dass er …“ „Aber das gleiche Wissen haben auch Sie!“, tadelte die böse Nugura ihren Untergebenen. „Machen Sie gefälligst was draus!“ Sie beendete die Verbindung.
Ratlos saß der böse Mikel da. Ihre Standpauke hatte ihn ziemlich getroffen. Was konnte er jetzt nur tun? Es war die Wahrheit, dass er sich nicht erklären konnte, warum er das Handeln der Schiffe nicht vorausgesehen hatte. Es war auch die Wahrheit, dass er feige den Schwanz eingezogen hatte, als die Schiffe ihren Überraschungsangriff durchgezogen hatten. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Er würde die Krankenstation aufsuchen müssen und das Ganze mit Loridana und Learosh besprechen müssen. Vielleicht konnten sie ihm ein Medikament geben, das ihm bei der Vernichtung seines guten Ich helfen würde, denn, wenn alle geistige Energie abgezogen war, würde es nicht mehr existieren.
Nugura und T’Mir aus dem bösen Universum saßen immer noch zusammen im Garten der Vulkanierin. „Was ist geschehen, Nugura?“, fragte T’Mir. „Es ist Mikel!“, antwortete die Präsidentin erbost. „Er hat versagt!“ „Was genau ist geschehen?“, bohrte T’Mir nach, die das Gespräch nicht genau verfolgt hatte. „Er hat sich von ein paar intelligenten Schiffen in die Flucht schlagen lassen!“, meinte Nugura mit einem verächtlichen Blick. „Er hat feige den Schwanz eingezogen!“ „Wie konnte das passieren?!“, fragte T’Mir. „Das hätte ich nicht gedacht. Ich dachte, er sei viel willensstärker als sein gutes Gegenstück. Bei uns allen ist das doch nicht anders. Also, warum bei ihm?“ „Er sagt, es sei, weil sein gutes Ich es irgendwie schaffe, ihn zu bekämpfen.“, gab Nugura die Nachricht an ihre Kollegin weiter. „Wie kann das sein?“, meinte die Antivulkanierin verwundert. „Er ist Terraner. Er kann doch nicht …“ „Anscheinend kann er doch.“, sagte die böse Nugura. „Wir dürfen nicht vergessen, dass er eine Menge Wissen über Telepathie hat. Er ist immerhin der Adoptivsohn eines Mächtigen. Dill wird ihn bei Zeiten gut informiert haben. Die Verbindung zwischen unseren guten Ichs und uns könnte man auch als telepathisch bezeichnen.“ „Sie meinen also.“, erwiderte T’Mir. „Dass der Kampf gegen sein gutes Ich sein Urteilsvermögen derart geschwächt hat?“ „Genau das, verehrte Kollegin.“, sagte Nugura. „Genau das.“ „Dann wollen wir mal hoffen, dass es bei uns nicht irgendwann genau so wird.“, meinte die Antivulkanierin. „Da müssen Sie sich doch nun wirklich am wenigsten sorgen.“, meinte Nugura lächelnd. „Ich meine, Ihr positives Ich dürfte froh sein, Sie los zu sein. Sie dürfte begrüßen, dass Sie jetzt eine eigene Person sind und sie nicht mehr belästigen können. Sie ist jetzt reiner Verstand und Sie sind reine Emotion und weit weg von ihr. Das ist ein Zustand, von dem sie immer geträumt hat. Selbst wenn sie also einen Weg finden sollten, uns wieder mit unseren guten Ichs zu vereinen, bevor wir sie getötet haben, wird sie Widerstand leisten. Ihr dürften die Umstände, wie sie jetzt vorherrschen, sehr gefallen. Aber damit spielt sie uns ja nur in die Hände.“ „Ja, das tut sie.“, sagte T’Mir. „Wenn auch nicht absichtlich.“ Sie lachte gemein. „Sehen Sie.“, sagte die böse Nugura. „Sie haben also den wenigsten Grund zum Jammern.“ „Ich jammere nicht.“, setzte sich T’Mir zur Wehr. „Ich habe lediglich darauf hingewiesen, auf welch tönernen Füßen unsere Existenz steht.“ „Aber sicher nicht mehr lange.“, meinte Nugura. „Ich denke nämlich, dass ich weiß, wer uns aus diesem Dilemma heraushelfen kann.“
Sie griff in ihre Tasche und holte einen altertümlich wirkenden Kugelschreiber hervor. „Was wollen Sie mit diesem Museumsstück?“, fragte T’Mir irritiert. „Schauen Sie ihn sich genau an.“, grinste Nugura und schob ihr das antiquierte Schreibgerät unter die Nase. T’Mir nahm ihn auf und besah ihn sich von allen Seiten. Dabei fiel der Telepathin etwas auf. Der Schreiber schien erfüllt von Sytanias geistiger Energie. Die Bestätigung fand sich alsbald auf der Rückseite. Hier fand sich, wenn auch nur sehr klein, die Abbildung eines Drudenfußes, des Wappen- und Weihezeichens der imperianischen Prinzessin. „Wie genial!“, lobte T’Mir. „Niemand würde auf den ersten Blick darauf kommen, dass Sie einen Kontaktkelch besitzen.“ „Genau.“, sagte Nugura. „Weil ich nämlich keinen riesigen Weinkelch mit mir herumschleppe. Genau darauf hat nämlich mein Plan gefußt, als ich ihn der Prinzessin weihte. Sie wissen vielleicht, dass jeder Gegenstand zum Kontaktkelch werden kann, wenn man das Weiheritual durchführt und ich weiß zufällig, wie das geht.“ „Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren, Nugura.“, geiferte T’Mir. „Lassen Sie uns Sytania so schnell wie möglich kontaktieren.“ „Genau das hatte ich ja auch vor, liebe Kollegin.“, beruhigte Nugura sie und führte ihre linke Hand auf den Schreiber, bevor sie dann die rechte Hand T’Mirs in ihre Linke nahm, um die eigene Rechte ebenfalls auf dem vor den Frauen auf dem Tisch liegenden Gegenstand zu platzieren. Dann dachten beide intensiv an Sytania, deren Gesicht auch bald vor ihren geistigen Augen erschien. Was gibt es?, fragte sie. Wir haben ein Problem, Hoheit., gestand Nugura. Der Versuch der Antisternenflotte, Lycira zu vernichten, ist gescheitert. Es gibt wohl irgendwelche Komplikationen mit dem negativen Ich von Agent Mikel. Das weiß ich!, erwiderte die Prinzessin und klang dabei sehr erbost. Ich habe alles mit meinen seherischen Fähigkeiten beobachtet. Meine Frage ,warum ihr mich kontaktiert, war also nur rein rhetorisch. Ich wollte wissen, ob ihr den Schneid besitzt, eure Niederlage mir gegenüber überhaupt zuzugeben. Den Göttern sei Dank habt ihr mich in dieser Hinsicht nicht enttäuscht. Aber das ist alles nicht so schlimm. Ich kenne jemanden, der das für euch erledigen wird und der definitiv nicht versagen wird. Er und seine Truppe werden sich um das Schiff kümmern, das jetzt auf dem Weg ist, die Information weiter zu geben. Lycira kann das ja gerade nicht, weil sie in der Dimension der intelligenten Schiffe festsitzt. Aber mehr Sorge macht mir Kamurus, dem sie alles gesagt hat und der jetzt auf dem Weg zu seiner Pilotin Ginalla ist. Die ist nicht dumm. Aber die Vendar werden das schon erledigen. Ich werde auch meiner neuesten Marionette Bescheid geben. Nathaniel wird auch seinen Teil dazu beitragen müssen. Ich werde seinen Befehl, sich um Betsy und Ginalla zu kümmern, etwas dringlicher machen müssen. Ich danke Milady für Eure Hilfe!, atmete Nugura auf und T’Mir nickte ihr beifällig zu. Geschenkt!, geiferte Sytania. Schließlich profitiere ich auch davon. Ihr Bild verschwand vor den geistigen Augen der Politikerinnen, ein eindeutiges Zeichen, dass Sytania die Verbindung beendet hatte. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass sie uns nicht im Stich lassen wird?“, fragte Nugura T’Mir. „Das haben Sie.“, gab die Antivulkanierin zurück. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so einfach über unser Versagen hinwegsieht.“ „Das tut sie mit Sicherheit auch nicht.“, meinte die Antinugura. „Ich bin überzeugt, sie kocht innerlich vor Wut. Aber sie hat es uns nicht spüren lassen.“
Wie Recht sie damit hatte, sollte sich zum gleichen Zeitpunkt im Thronsaal der imperianischen Königstochter herausstellen. Dort hin bestellte sie nämlich jetzt Telzan. Der Vendar sah gemeinsam mit seiner Herrin durch den Kontaktkelch und meinte dann: „Das ist kein Problem für uns, Gebieterin. Mit diesem Schiff werden wir schon fertig.“ „Das will ich hoffen.“, sagte Sytania. „Sonst ist nämlich alles gefährdet und mein zweiter Plan, von dem ich dir bei Zeiten berichten werde, kommt nie zur Ausführung.“ „Dazu werde ich es nicht kommen lassen, Hoheit.“, sagte Telzan mit Überzeugung, wandte sich ab und ging mit entschlossenem Gesicht. Sytania sah ihm noch eine Weile nach, bevor sie beschloss, Nathaniel zu kontaktieren, denn auch er würde eine große Rolle bei ihrem Vorhaben spielen.
Über der Nordhalbkugel von Celsius war bereits der frühe Abend angebrochen, als das Breenschiff mit Radcliffe und seiner Familie in die Umlaufbahn zu schwenken begann. Nayale hatte Malcolm früh ins Bett gebracht, denn sie wollte unbedingt mit ihrem Mann über die merkwürdigen Vorkommnisse sprechen, die der intelligenten jungen Frau ein solches Kopfzerbrechen bereiteten, dass sie schon Nächte lang nicht geschlafen hatte. Sie ahnte im Gegensatz zu ihrem Mann sehr wohl, dass sie alle hier nur benutzt werden sollten und dass es besser für sie wäre, sich so schnell wie möglich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Sie wusste nur nicht, wie sie dies anstellen sollte. Aber auf Celsius gab es Behörden und vielleicht lief ihr ja auch der eine oder andere Sternenflottenoffizier über den Weg. In jedem Fall würde sie einen passenden Moment abwarten, um sich dann an die entsprechenden Organe zu wenden. Nur ihren Sohn, den wollte sie am liebsten da heraushalten. Er war, wie sie fand, durch die ganze Angelegenheit schon traumatisiert genug. Insgeheim war Nayale froh, dass seine kindliche Fantasie dafür sorgte, dass er sich noch immer in einer Märchenwelt wähnte. Die Wahrheit wäre zu schrecklich und wohl kaum verständlich für ihn gewesen. Das wusste die Mutter. Deshalb blieb sie auch noch so lange bei Malcolm in der Achterkabine sitzen, bis er eingeschlafen war.
Im Cockpit hatte Radcliffe den Autopiloten des Breenschiffes aktiviert. Sytanias Versuch, mit ihm telepathischen Kontakt aufzunehmen, hatte er durchaus registriert. Wie kann ich Euch behilflich sein, Hoheit?, dachte Nathaniel. Ich muss mit dir über unser weiteres Vorhaben beraten., antwortete ihm Sytania. Immer doch, Prinzessin., meinte Radcliffe unterwürfig. Ich bin allzeit bereit. Das möchte ich dir auch geraten haben., drohte die Imperianerin. Sonst kann ich dich ganz schnell wieder zu dem machen, der du einst warst, das Nervenbündel mit der psychischen Krankheit und das wollen wir doch nicht, oder? Auf keinen Fall!, dachte Radcliffe fest. Na also., keifte Sytania. Dann sind wir uns ja einig. Also, Nathaniel. Ich möchte, dass du diese Ginalla rein wäschst. Dann möchte ich, dass du Betsy und ihren beiden Männern vorspielst, dass alles wieder in Ordnung mit dir ist. Lass dich auf jedes Spiel ein, mit dem sie dich zu prüfen gedenken. Du musst dafür sorgen, dass sie zu 100 % sicher ist, dass du wieder genesen bist. Falls dir das nicht gelingen sollte, musst du sie mit meiner Hilfe töten! Mit Eurer Hilfe, Milady?, fragte Radcliffe. Ja, mit meiner Hilfe., meinte Sytania. Weil wir die beiden zunächst ablenken müssen, damit dieser Telepath ihr nicht etwa zur Hilfe kommen kann. Der Terraner wird sowieso nicht viel tun können bei dem, was ich vorhabe. Wir werden es wie einen Unfall aussehen lassen.
Es gab einen schwarzen Blitz und vor Radcliffe auf der Konsole stand eine Amphore. Verwahre sie gut!, befahl Sytania. Ich hoffe zwar, dass du sie nicht benötigen wirst, aber falls doch … Ich verstehe., dachte Radcliffe und steckte das Gefäß ein. Darin ist ein imperianischer Trank., informierte ihn Sytania. Falls wir sie doch töten müssen, träufelst du etwas davon in ihr Getränk, wenn du vorgibst, mit ihr auf die Versöhnung trinken zu wollen. Ihr seid ja damals nicht gerade im Guten auseinander gegangen, nicht wahr? Das ist wahr, Hoheit., erinnerte sich Radcliffe. Na also., entgegnete Sytania. Dann weißt du ja, wovon ich rede. Aber nun noch einmal zu dem Trank. Er wirkt wie eine Droge, die Hypnose begünstigt. In der Nähe der Kneipe ist ein See. Ich werde Betsy, wenn sie schläft, den hypnotischen Befehl erteilen, ins Wasser zu gehen. Es wird am nächsten Morgen aussehen, als wäre sie Schlaf gewandelt und tragischerweise ertrunken. Niemand wird mich verdächtigen und dich auch nicht. Hoffen wir, dass Ihr Recht habt., erwiderte Nathaniel. Das brauchst du nicht zu hoffen!, empörte sich Sytania, der es überhaupt nicht gefiel, dass er Zweifel hatte. Zweifel waren nämlich für ihre Pläne sehr gefährlich, denn Zweifel führten zu Forschung und die konnte dazu führen, dass Radcliffe sich eventuell nicht mehr so bereitwillig von ihr benutzen ließ, wenn sie nicht aufpasste. Bitte vergebt mir, Milady., bat der verblendete Professor. Es ist nur so, dass ich noch nie in meinem Leben jemanden getötet habe. In diesem Leben vielleicht nicht., deutete Sytania an. Was meint Ihr?, wunderte sich Radcliffe. Lassen wir das., lenkte Sytania ab. Wichtig ist, dass du mir auf den Kopf zusagst, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist, mein guter Nathaniel. Du weißt ja, was ich mit dir machen kann, wenn du kneifst!
Radcliffe fuhr zusammen. Er wusste genau, was sie damit meinte. In der Zeit, in der er für sie gearbeitet hatte, war er sehr stabil gewesen und das wollte er auf keinen Fall wieder verlieren. Er wusste, wenn er wieder krank würde, dann würde er auch seine Familie verlieren und das wollte er nicht. Also nahm er sich zusammen und versicherte fest: Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Hoheit! Genau das wollte ich hören., lobte Sytania. Und zur Belohnung für deinen Mut sollst du jetzt auch noch ein Geschenk von mir erhalten, das dir sehr nützlich sein wird.
Es gab einen erneuten schwarzen Blitz und auf dem Armaturenbrett im Cockpit erschien eine weitere Schalttafel, auf deren Display in großen Lettern das Wort Tarnvorrichtung zu sehen war. Die wirst du sogleich aktivieren!, befahl Sytania. Dann wird niemand das Schiff sehen. Zumindest so lange nicht, wie ich es will, oder bis ich dir etwas anderes sage. Deine Familie und du, ihr werdet nach Celsius hinunter gehen und euch dort in Ginallas Kneipe einmieten. Über den Rest haben wir ja schon gesprochen. Ja, Prinzessin., nickte Nathaniel. Dann betätigte er den Knopf, der die Tarnvorrichtung aktivierte.
Das Geräusch der Tür ließ ihn aufhorchen. „Malcolm ist endlich eingeschlafen.“, sagte eine freundliche helle weibliche Stimme hinter ihm und jemand setzte sich auf den Copilotensitz. Erst jetzt erkannte Nathaniel seine Frau. „Das ist zwar sehr gut, Nayale.“, sagte er. „Aber du musst ihn leider gleich wieder wecken. Er wird nämlich die heutige Nacht mit uns auf Celsius verbringen.“ „Auf Celsius?“, fragte Nayale. „Sind wir denn schon da?“ „Ja, das sind wir.“, entgegnete Nathaniel. „Wir befinden uns bereits in der Umlaufbahn. Wir werden uns in einer Kneipe in einer gemütlichen Kleinstadt einmieten.“ „Werden wir landen, oder wie hast du dir das vorgestellt?“, fragte Nayale. „Ich meine, wohin mit dem Schiff?“ „Das bleibt hier oben in der Umlaufbahn.“, sagte Radcliffe. „Wir benutzen den Transporter.“ Damit stellte er das Gerät entsprechend ein.
Nayales Augen waren über die Instrumente gewandert. Wenn sie bereits in der Umlaufbahn waren, dann hätte doch die celsianische Raumkontrolle längst Kenntnis von ihnen haben müssen und sie rufen müssen. Auf dem Display des Sprechgerätes war aber kein Anhaltspunkt dafür zu erkennen. Im gleichen Moment fiel der intelligenten jungen Frau aber auch der Grund dafür auf. „Seit wann hat unser Schiff eine Tarnvorrichtung?!“, fragte sie sehr laut und deutlich. „Kommt die etwa von deiner Prinzessin?! Tu nicht so! Ich weiß genau, dass du mit ihr geredet hast! Ich weiß, dass du den Kontaktkelch unter dem Pult versteckst!“ „Du bist so süß, wenn du eifersüchtig bist.“, versuchte Nathaniel, sie zu beschwichtigen, denn er ahnte, dass sie ihm auf die Schliche gekommen sein könnte. „Eifersucht!“, empörte sich Nayale. „Darum geht es hier doch überhaupt nicht! Hast du schon mal darüber nachgedacht, warum sie dir all diese Gefallen tut?! Nein, das hast du nicht! Sonst hättest du garantiert auch festgestellt, dass sie dich nur benutzen wird, solange es ihr beliebt! Dann wird sie dich wieder fallen lassen, jawohl! Ich erkenne dich nicht wieder, Nathaniel! Seit du wieder bei mir bist, erkenne ich dich nicht wieder! Du bist eine leere willenlose Hülle geworden, ein Schatten deiner Selbst! Wach endlich auf! Wach auf!“
Sie griff nach dem Kontaktkelch, der, wie sie richtig vermutet hatte, unter dem Steuerpult versteckt lag und warf ihn mit all ihrer Kraft gegen die Wand des Schiffes, von der etwas Farbe abplatzte. Dem Kelch selbst geschah nichts, denn ein zu einem Kontaktkelch geweihter Gegenstand kann nicht durch einen Sterblichen zerstört werden. Die Krawattennadel fiel also unversehrt wieder zu Boden. „Nicht so laut.“, versuchte Nathaniel, seine Frau zu beschwichtigen. „Der Junge schläft.“ „Das ist mir egal!“, schrie Nayale. „Du wolltest ihn doch sowieso wecken! Aber da hasst du ja eine feine Ausrede gefunden!“
Sie nahm die Nadel auf und hielt sie vor ihren Mund. Dann schrie sie hinein: „Damit Ihr es wisst, Sytania! Ich will den Mann zurück, den ich geheiratet habe und wenn ich persönlich mit Euch um ihn kämpfen muss!“ „Wie willst du das denn anstellen?“, lachte Nathaniel spöttisch. „Das weiß ich noch nicht.“, drohte Nayale. „Aber ich denke, mir wird schon bei Zeiten etwas einfallen!“
Eine kleine blasse Gestalt erschien im Rahmen der Tür. „Warum seid ihr so laut?“, fragte die kleine Stimme MalcolMrs. „Ich kann gar nich’ schlafen, wenn ihr so laut seid.“ „Entschuldige, mein Schatz.“, sagte Nayale mild. „Mummy und Daddy haben nur einen kleinen Streit. Aber das wird schon wieder gut. Wir werden jetzt gleich erst einmal auf einen fremden Planeten gehen, wo wir Urlaub machen.“ Sie führte ihn zur Transporterplattform. „Was is’ mit dem Schiff?“, wollte Malcolm wissen. „Macht das auch Urlaub?“ „Nein.“, sagte Radcliffe, der den Transporter auf Selbstauslöser gestellt und sich dazugesellt hatte. „Das bleibt in der Umlaufbahn und passt auf uns auf.“
Der Transporter gab ein Signal von sich und summte. „Wiedersehen, Schiff!“, rief Malcolm. „Wir kommen bald wieder zu dir.“ Sie verschwanden in drei durchsichtiger werdenden Säulen.
Sie wurden auf einem Sandweg materialisiert, der ein leichtes Gefälle aufwies. Rechts und links des Weges fanden sich Pflanzen, die an Gewässern üblicherweise beheimatet waren, was bereits darauf hinwies, dass man sich einem See näherte.
Nathaniel deutete in eine Richtung und ging voran. Nayale und Malcolm, der seinen Teddy im Arm hatte und nur mit einem Schlafanzug bekleidet war, folgten. Bald waren sie am Ufer des Sees, zu dem der verblendete Professor offensichtlich die ganze Zeit gewollt hatte, angekommen. Hier stand Nathaniel jetzt da und schien die Tiefe des Sees erkunden zu wollen. Jedenfalls starrte er unentwegt Richtung Grund, als wollte er etwas ausmessen. „Kannst du mir mal verraten, was du suchst?!“, fragte Nayale ernst, der es in diesem Moment völlig egal war, dass ihr Kind, das sie eigentlich hatte schützen wollen, das Gespräch mitbekommen würde. „Ich suche nichts!“, versicherte Nathaniel mit einer Stimme, die Nayale das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ich nehme nur für etwas Maß. Ich hoffe aber, dass es nicht dazu kommen wird, dass ich dieses Maß tatsächlich brauche.“ „Du sprichst schon wieder in Rätseln.“, stellte die junge intelligente Zeonide fest. „Aber das bist nicht du. Das kommt alles von deiner Prinzessin! Ich wünschte, du würdest endlich aufwachen!“ „Warum denkst du so schlecht über Sytania?“, wollte Nathaniel wissen. „Du solltest wirklich dankbarer gegenüber ihr sein! Schließlich hat sie mich geheilt.“ „Was für ein Unsinn!“, sagte Nayale mit einer großen Sicherheit. „Wenn sie dich wirklich geheilt hätte und sie wirklich wollen würde, dass du wieder gesund wirst, dann hätte sie dich längst deiner Wege geschickt und nicht erst so ein obskures Arbeitsverhältnis zwischen euch begonnen. Aber sie scheint dich ja immer noch mit irgendwas in der Hand zu haben. Oder wie erklärst du dir dein eigenes Verhalten?“ „Was meinst du?“, tat Nathaniel unschuldig. „Wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing’!“, zitierte Nayale ein altes irdisches Sprichwort, das sie schon in der Schule gelernt hatte. „Du meinst also allen Ernstes.“, sagte Radcliffe und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Dass Sytania meinen Willen diktiert? Da kann ich dich beruhigen. Der ist so frei wie eh und je. Ich werde es dir beweisen.“
Er nahm einen Kieselstein auf und warf ihn ins Wasser. „Warum meinst du, dass ich diesen Stein geworfen habe?“, fragte er rhetorisch. „Ich warf ihn, weil ich ihn werfen wollte! Du siehst also, mein Wille ist frei.“ „Mach dir nur weiter selbst etwas vor, Nathaniel Radcliffe.“, flüsterte Nayale zynisch.
„Mummy, mir is’ kalt.“, quengelte Malcolm von hinten. Nayale warf den Kopf herum und erblickte ihren zitternden und bibbernden Sohn. „Oh, sicher, mein Spatz.“, sagte sie mitleidig. „Wir gehen gleich ins Warme. Du hast ja nur einen Schlafanzug an.“
Sie nahm den Jungen bei der Hand und drehte sich in Richtung der Kneipe, die Hügel aufwärts lag. Dieses Mal war Nathaniel derjenige, der folgte. Bald waren sie an der Drehtür zum Gastraum eingetroffen.
Ginalla selbst war die Erste, die ihnen ansichtig wurde. „Ach ne!“, sagte sie und lachte aus vollem Hals. „Wie süß is’ das denn? Da kommt aus dem Nichts ’ne Familie an mit einem kleinen Hosenmatz im Schlafanzug mit Teddy im Arm. Sag mal, mein Süßer, hatten deine Eltern keine Zeit, dir was Anständiges anzuziehen? Is’ doch verdammt kalt hier auf Celsius in der Nacht!“ „Es tut mir leid, Miss.“, sagte Nayale, die auf keinen Fall wollte, dass über sie oder ihre Familie ein falscher Eindruck entstand. „Aber wir hatten wirklich keine Zeit. Mein Mann wollte unbedingt so schnell wie möglich hier runter und deshalb …“ „Du musst wissen, Tante.“, unterbrach Malcolm seine Mutter. „Dass wir mit einem Raumschiff gekommen sind.“ „Mit ’nem Schiff.“, sagte Ginalla. „Sicher. Aber der letzte Liner is’ doch vor drei Stunden gelandet. Ich denke, da wäre genug Zeit gewesen, den Kleinen auf der Toilette umzuziehen, nich’ wahr?“
Nathaniel warf seiner Frau einen mahnenden Blick zu. Er wollte auf jeden Fall sicher gehen, dass sie nichts verriet. „Wir standen zu lange in der Schlange.“, redete sich Nayale raus. Sie wollte auf keinen Fall in der Öffentlichkeit einen Streit beginnen. „Drei Stunden lang.“, grinste Ginalla, die ja durch Scotty über alles informiert war, dies aber auch nicht zeigen wollte und durfte. „Na ja, sei’s drum. Sie brauchen ja sicher ein Zimmer.“ Sie ließ den Blick über die Buchungslisten schweifen. „Oh, Mist.“, murmelte sie und wendete sich wieder ihren drei neuen Gästen zu. „Das einzige Dreierzimmer habe ich schon vergeben. Aber ich hätte da noch was. Ein Einzel- und ein Doppelzimmer nebeneinander. Ich würde sagen, das Doppelte für Mutter und Kind und das Einzelne für den Ehemann und Vater. Das is’ auch für den Kleinen angenehmer in der Fremde, nich’, kleiner Matz?“ Sie grinste ihn lieb an und strich Malcolm über das Haar. „Ist in Ordnung, Miss …“, sagte Nayale und überlegte. „Oh, schlicht und einfach Ginalla.“, flapste selbige. Auch Radcliffe nickte den Vorschlag ab. Er war insgeheim sehr froh, doch von seiner Frau getrennt zu wohnen, denn sie hatte in seinen Augen schon zu viel herausbekommen und er machte sich Sorgen um den Deal zwischen sich und Sytania.
Ginalla durchschritt eine kleine Pforte, die sie von hinter dem Tresen direkt in den Gastraum führte. Dann stellte sie sich vor die Radcliffes und winkte ihnen, ihr zu folgen. „Kommen S’e mal mit.“, flapste sie. „Hier zeigt die Chefin noch selbst, wo die Zimmer sind.“ Nathaniel, Nayale und Malcolm folgten ihr.
Scotty, Shimar und ich lagen in unserem Zimmer auf dem Bett und die Beiden hatten nichts Besseres zu tun, als mich zu entspannen. Das geschah in der Art, dass Shimar ein Bild, das er in meinem Geist gefunden hatte, so sehr verstärkte, dass ich den Eindruck hatte, alles noch einmal wirklich zu erleben. Dass die Tindaraner dazu in der Lage waren, war mir durchaus bekannt und ich hatte es auch schon am eigenen Leib zu spüren bekommen. Scottys Aufgabe bestand darin, die Behandlung zu unterstützen, indem er mich im Arm hielt und mir ab und zu, wenn ich drohte, doch unruhig zu werden, zuflüsterte: „Bleib bei dem Bild, Darling. Bleib in der Stimmung.“ Dann gab ich meistens einen Laut von mir, der auf ein gewisses Wohlgefühl hindeutete und versank wieder in der Entspannung. Dazu trug auch bei, dass Scotty mich unentwegt wie eine verängstigte Katze kraulte und streichelte.
Bei dem für mich sehr positiven Bild, das Shimar benutzte, handelte es sich um die Darstellung einer Landschaft, die sich wohl im Dunklen Imperium auf Logars Seite der Dimension befinden musste. Außerdem sah ich Shimar und mich auf zwei kleinen stämmigen Pferden sitzen und durch ebendiese Landschaft reiten. Ich hatte aber keinen Strick in der Hand, an dem ich sein Pferd unter Umständen halten würde. Das musste bedeuten, dass er gelernt haben musste, völlig selbstständig zu reiten. Ich erinnerte mich sehr wohl an die gesamte Begebenheit, zu der dieses Bild gehörte, wusste aber, dass ich es auf keinen Fall dazu kommen lassen durfte, dass er mehr über den Zusammenhang herausfand. Er war zwar Telepath und hätte dies durchaus können, aber ich hatte das starke Gefühl, dass er sich mit dem zufrieden gab, was er wahrnahm. Darüber war ich insgeheim sehr froh. Jede weitere Nachforschung seinerseits hätte unter Umständen Dinge zutage fördern können, über die ich ja nicht reden durfte, weil ich die Einzige war, die sich daran erinnerte. Falls er mich darauf ansprechen sollte, würde ich mir eine gute Ausrede überlegen müssen.