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Radcliffe hatte mir einen der gut nach Schokolade duftenden Kekse in die Hand gegeben. „Sie müssen ja ein völlig falsches Bild von mir haben, Allrounder.“, versuchte er, eine Konversation zu beginnen. „Keineswegs, Professor.“, sagte ich. „Das hatte ich vielleicht, aber das haben Sie ja mittlerweile erfolgreich revidiert.“ „So? Habe ich das?“, sagte Radcliffe. „Und wie habe ich das angestellt?“ „Nun.“, begann ich. „Ich finde, Ihre Reaktion, als Ihre Frau Ihnen den Rippenknuff verpasst hat, war eindeutig. Der alte Radcliffe hätte bestimmt nicht gesagt, dass es nur ein Spaß war. Er hätte sich sicher noch gerechtfertigt. Sicher hätte er auch den guten alten Solok angeführt.“ „Du lieber Himmel!“, lachte Radcliffe. „So was Verrücktes! Nein, Allrounder, ich halte mich schon lange nicht mehr für Sisko und wähne mich auch schon lange nicht mehr in der Vergangenheit. Dieses Kapitel meines Lebens ist Dank Ihnen und Dank Sytania endgültig vorbei!“ „Ach ja?“, sagte ich. „Also, als wir zusammen zu diesem Planetoiden geflogen sind, waren es noch die Propheten.“

Ich hörte, wie er sein Glas ansetzte und einen großen Schluck daraus nahm. Mein Satz musste ihn doch an etwas erinnert haben. Er musste ihn an die Widersprüche in den Dingen erinnert haben, die ihm passiert waren. Hätte ich damals geahnt, was er in Wahrheit für ein schlechtes Gewissen hatte, hätte ich mir das alles sicher viel besser erklären können.

„Ich denke, sich als Prophet zu tarnen, war zum damaligen Zeitpunkt für Sytania notwendig.“, sagte er schließlich, nachdem er eine ganze Weile lang nach einem Weg gerungen hatte, aus der Situation wieder herauszukommen. „Sehen Sie, ich war damals der Meinung, ich sei Benjamin Sisko. Also hätte ich mich auch nur auf die Propheten eingelassen und wohl nicht auf eine Person, die ich gar nicht kannte. Es war also ein sehr kluger Schachzug meiner Wohltäterin, nicht wahr? Sagen Sie selbst, Allrounder. Ich meine, meine Frau wird Ihnen ja sicher von meinen Eskapaden berichtet haben. Sie haben gute psychologische Instinkte, habe ich mir sagen lassen. Sie wissen auch, dass man zu manchen Leuten auch nur Zugang bekommt, wenn man sie in ihrer Welt abholt und genau das hat die geniale Sytania mit mir gemacht. Jetzt kann ich als Nathaniel Radcliffe leben, ohne diese Anfälle. Ach, nehmen Sie doch noch einen Keks und hier haben Sie noch ein Glas Tee.“

Er schob mir die Schale hin und ich fühlte mich fast genötigt, noch einmal zuzugreifen. In der Zwischenzeit goss er mir noch einmal Tee in mein Glas. Das tat er aber im gleichen Moment, in dem ich in den Keks gebissen hatte. Dies kam mir sehr merkwürdig vor. Es schien, als wollte er verhindern, dass ich etwas Bestimmtes mitbekam.

Er hob sein Glas, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. „Auf den Neuanfang.“, sagte er. „Und auf einen neuen Nathaniel Radcliffe!“ „Das kann ich nur bestätigen.“, lächelte ich und stieß mit ihm an. Gleich darauf bemerkte ich aber, dass ich unglaublich müde wurde. „Na, da muss wohl jemand dringend schlafen.“, sagte Radcliffe. „Das Gefühl habe ich auch.“, sagte ich und gähnte. „Dann wird es wohl besser sein, wenn ich gehe.“, sagte Nathaniel. „Die Kanne und die Schale sind ohnehin leer.“

Er stellte beides wieder auf das Tablett. Dann trank er aus und auch ich leerte mein Glas. Dann stellten wir die Gläser dazu. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Betsy.“, sagte er und betonte meinen Vornamen noch besonders. „Ich Ihnen auch, Nathaniel.“, sagte ich und wankte in Richtung Bett, wo ich mich so wie ich war in der Mitte in die Kissen fallen ließ und sofort eingeschlafen war. Es hatte für mich keine Bedeutung mehr gehabt, dass ich noch immer meine Kleidung trug. Ein Verhalten, das man im Allgemeinen von einer Sternenflottenoffizierin sicher nicht erwarten würde, aber plötzlich war mir alles so egal geworden. Ich wollte nur noch schlafen.

Mein Einschlafen war von Sytania und Dirshan mit Freude durch den Kontaktkelch beobachtet worden. „Na endlich!“, äußerte sich die nicht gerade für ihre geduldige Ader bekannte Königstochter. „Das war sehr knapp, Herrin, wenn Ihr mich fragt.“, meinte der junge Vendar. „Da hast du Recht.“, erwiderte Sytania. „Ich hatte mir auch schon Sorgen gemacht, dass Nathaniel versagen könnte. Sie ist nun einmal sehr intelligent, diese kleine terranische Kröte. Aber den Göttern sei Dank hat er es ja immer wieder verstanden, ihre Bedenken zu zerstreuen. Was haben wir für ein Glück, dass sie Nathaniel die Sache mit seiner Heilung durch mich zunächst abgenommen hat, ohne ihn über mich zu informieren!“ „Aber selbst, wenn sie das getan hätte, Milady.“, sagte Dirshan. „Denkt Ihr denn tatsächlich, er hätte ihr auch nur ein Wort geglaubt?“ „Man weiß es nicht.“, sagte Sytania und warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Immerhin hat er leichte Zweifel, was die Mithilfe, seine Mithilfe wohlgemerkt, an ihrer Tötung angeht. Aber ich kann mir auch schon vorstellen, warum sie nichts gesagt hat. Ich denke, sie wollte diesen armen, armen Zivilisten nicht verwirren mit Informationen, die sein Weltbild doch ach so sehr erschüttern könnten. Sie hat wohl befürchtet, es könnte zu einem Rückfall kommen!“ Sie lachte spöttisch.

Dirshan ließ sich noch einmal vom Kontaktkelch mein Bild zeigen. „Sie sieht aus wie ein Engel, wenn sie schläft, Prinzessin, nicht wahr?“, sagte er mit zynischem Unterton. „Da hast du Recht, Dirshan.“, sagte Sytania. „Und die größte Ironie an der Sache ist, dass sie auch bald zu genau denen entfleuchen wird, wenn ich mit ihr fertig bin!“ „Wie werdet Ihr jetzt genau vorgehen, Hoheit?“, fragte der Novize neugierig. „Ich werde mich zunächst gleich heimlich still und leise in ihren Geist schleichen.“, erklärte die Mächtige. „Dann werde ich sie im Traum durch einen schönen lauschigen Wald spazieren lassen. Dabei wird das für ihr Unterbewusstsein aber so real sein, dass sich ihre Beine tatsächlich bewegen und sie aus der Kneipe tragen werden in Richtung See. Davon wird sie aber nichts merken. Dafür werde ich mit einer kleinen Suggestion schon sorgen. Sie wird auch nicht merken, dass sie jämmerlich ertrinken wird, denn aufwachen kann sie nicht.“ „Ich verstehe.“, sagte Dirshan grinsend. „Dafür sorgt wohl auch mit die Droge, die ihr Nathaniel in Eurem Auftrag verabreicht hat.“ „Was für ein kluger Junge du doch bist!“, sagte Sytania. „Ich weiß schon, warum ich dich trotz der Tatsache, dass du noch ein Novize bist, zum Führer meiner Truppen ernannt habe.“ „Warum musste er das überhaupt tun?“, fragte Dirshan. „Ich meine, Ihr seid eine Mächtige. Ihr könntet doch ihren Geist auch so manipulieren, ohne dass sie etwas merkt. Ich meine, immerhin ist sie Nicht-Telepathin.“ „Aber sie ist auch eine trainierte Sternenflottenoffizierin!“, sagte Sytania und klang dabei wie eine strenge Lehrerin, die einen unaufmerksamen Schüler zurechtweisen musste. Dirshan wurde das Gefühl nicht los, sie in diesem Augenblick maßlos enttäuscht zu haben. „Du weißt, dass die Psychotricks lernen in ihrem Training, um sich gegen äußere feindliche Einflüsse zur Wehr zu setzen!“ „Aber wie ich Euch bereits sagte.“, versuchte sich Dirshan zu rechtfertigen. „Sie ist Nicht-Telepathin. Sie hat doch überhaupt keine Möglichkeit, überhaupt zu erkennen, dass es einen solchen Einfluss überhaupt gibt. Wenn sie nicht weiß, dass ein Feind da ist, dann kann sie doch auch keinen bekämpfen. Schon gar nicht im Schlaf.“ „Im Prinzip hast du Recht.“, sagte Sytania und sah ihn mild an. „Du bist noch nicht sehr lange Novize bei Telzan gewesen, deshalb will ich dir deine naive Äußerung noch einmal vergeben. Du kannst vielleicht noch nicht wissen, was ich weiß. Sie ist zwar Nicht-Telepathin, aber sie ist auch das Liebchen dieses widerwärtigen Tindaraners! Wer weiß, was der ihr beigebracht hat. Er hat es ja leider auch geschafft, ihre Angst vor Telepathie zu besiegen. Aber wer weiß, vielleicht können wir sie ja wieder schüren.“ „Aber das wird doch nichts mehr nützen, wenn sie tot ist.“, sagte Dirshan. „Den Lebenden vielleicht nicht.“, meinte Sytania. „Aber wenn man im Totenreich davon erfährt, welche Furcht ich bringen kann, dann haben sicher sogar die Toten eine Heidenangst vor mir. Das kann uns doch nur zum Guten gereichen! Wer weiß, wozu es einmal Nütze sein wird! Aber noch mal zu Nathaniel. Ihn mit der Beihilfe zum Mord an Allrounder Betsy Scott zu beauftragen, war auch eine kleine Prüfung meinerseits an ihn. Ich wollte mich in jedem Falle seiner Loyalität versichern.“ „Das leuchtet mir ein, Milady.“, sagte Dirshan und schaute sie unterwürfig an. „Das hätte ich an Eurer Stelle sicher nicht anders gemacht.“ „Na siehst du.“, grinste die Prinzessin. „Dann sind wir uns ja einig! Und nun lass mich allein! Ich muss mich konzentrieren!“ „Sehr wohl, Hoheit.“, nickte der junge Vendar und schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Thronsaal.

Wie es ihr Korelem gesagt hatte, stand Jasmin am Fenster seines Zimmers und beobachtete den See mit aufmerksamen Augen. Sie hoffte nur, dass sie sich alles, was sie sah, gut genug bis zum nächsten Morgen würde merken können, denn ein Pad oder etwas Ähnliches hatte sie gerade leider nicht zur Hand. Sie sah, wie ich die Kneipe durch die Tür verließ und auf den See zuging. Aber bedingt durch das Licht des Vollmondes, der in dieser Nacht schien, konnte sie auch genau sehen, dass meine Augen geschlossen waren. An sich war das nicht sehr ungewöhnlich, denn als jemand, der noch nie sehen konnte, hatte ich nur sehr wenig Kontrolle über die Muskulatur meiner Augen. Auf Familienfotos war das auch immer ein leidiges Thema gewesen. Jasmin konnte sich also nicht wirklich sicher sein, ob ich wirklich schlafwandelte. Es mussten also noch mehrere Faktoren abgeklärt werden, bevor das verifiziert werden konnte.

Jasmin überlegte, das Fenster zu öffnen und einige Worte zu mir herunter zu rufen, aber da fiel ihr etwas ein, das sie im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Der Vulkanier, der diesen Kurs an ihrer High School gegeben hatte, hatte allen Schülern eindringlich eingeschärft, einen Schlafwandler niemals zu wecken. Statt dessen sollte man ihn einfach nur sanft mit einer ruhigen vorsichtigen Bewegung bei der Hand nehmen und ihn dann in sein Bett zurückführen. Dann würde man auf jeden Fall ein Erwachen vermeiden und die daraus resultierende Verwirrung des Schlafwandlers würde nie eintreten. Auch könnte eine verwirrte Person unter Umständen unberechenbar und vielleicht auch für den Helfer gefährlich werden.

Immer weiter sah mich Jasmin auf das Ufer zugehen. Ausgerechnet an der steilsten Stelle war ich jetzt im Begriff, das Wasser zu betreten. Sie wird ausrutschen!, dachte das Mädchen. Was mache ich jetzt? Korelem, wo sind Sie?! Offensichtlich hoffte Jasmin, dass er in der Nähe sein würde, denn sie hatte ja schließlich auch gesehen, wie er das Zimmer durch die Dachluke verlassen hatte. Sie war sehr erleichtert, als sie dann tatsächlich ein fliegendes Wesen sah, das sich mir offensichtlich zu nähern schien. Bei näherem Hinsehen erkannte sie tatsächlich denjenigen, den sie soeben in Gedanken um meine Rettung angefleht hatte. Natürlich hätte sie auch selbst zur Sprechanlage greifen und einen Notruf absetzen können, aber seine Anweisungen von vorhin ließen es einfach nicht zu, dass sie ihren Posten am Zimmerfenster auch nur für einen Moment verließ. Einerseits war sie über das, was sie hier sah, sehr verwirrt und fühlte sich wie gelähmt, aber auf der anderen Seite war sie auch sehr froh, endlich jemanden zu sehen, der mir aus der für mich so gefährlichen Situation helfen würde. Korelem würde das schon hinkriegen, das hoffte das Mädchen zumindest. Wie gebannt verfolgte sie weiter, was jetzt geschehen würde. Er hatte ihr gegenüber den Eindruck vermittelt, die Situation jederzeit im Griff zu haben, also würde es für sie auch nicht notwendig werden, seine Anweisungen in den Wind zu schlagen und zu gehen, um die Rettung zu alarmieren. Es würde wohl ausreichen, wenn sie hier blieb und sich alles merkte, wie er es ihr aufgetragen hatte. Um so besser würde sie am nächsten Morgen in der Lage sein, gegenüber der Polizei oder dem Geheimdienst auszusagen, falls heute doch noch etwas Schlimmes passieren sollte. Also blieb sie wo sie war und beobachtete das Geschehen weiter.

Shimar und IDUSA waren gestartet und hatten die Umlaufbahn von Celsius erreicht. Hier bemerkte jetzt auch der junge Tindaraner das Breenschiff. „Ich frage mich, wo das herkommt, IDUSA.“, sagte er. „Ich habe keine Daten, die seine Herkunft erklären könnten, Shimar.“, erwiderte das Schiff. „Du hast es also nicht ankommen sehen?“, fragte ihr doch mittlerweile etwas verwirrter Pilot. „Nein, Shimar.“, entgegnete sie. „Das habe ich leider nicht. Es gibt zwar eine Antriebssignatur, wenn Sie das meinen, aber sie ist zu alt. Ich habe das Schiff erst vor einigen Minuten wahrgenommen. Vor 45 Minuten, um genau zu sein. Die Signatur ist aber erheblich älter. Sie ist mehrere Tage alt. Ich könnte, wenn ich von Musterdaten über den Antrieb von Breenschiffen ausgehe, sicher berechnen, wie viele Tage es genau sind, aber …“ „Meinetwegen brauchst du das nicht zu tun, IDUSA.“, stöhnte Shimar, der nun wirklich keine Lust auf endlose Zahlenkolonnen hatte. Außerdem war ihm das Thema Statistik schon immer viel zu trocken gewesen. „Sie sagen, ich müsse es nicht Ihretwegen tun.“, sagte IDUSA, die sich denken konnte, dass in seiner Äußerung vielleicht schon ein kleiner Wink mit dem Zaunpfahl an sie versteckt sein konnte. „Aber ich denke, den Agent wird das vielleicht interessieren. Soll ich Sie mit ihm verbinden?“ „Mit ihm und mit Zirell!“, sagte Shimar und klang dabei regelrecht stolz. Er strich mit seinen Fingern über die leeren Ports, wie er es immer tat, um IDUSA zu verdeutlichen, dass sie ihn sehr zufrieden gestellt hatte. „Sie schmeicheln mir.“, sagte ihr Avatar und machte ein fast verschämtes Gesicht. „Ich habe doch noch gar nichts gemacht.“ „Natürlich hast du was gemacht.“, widersprach Shimar. „Du hast meine Worte richtig interpretiert.“ „Ach.“, sagte IDUSA. „Das konnte ich, weil ich Sie schon sehr lange kenne und aufgrund der Daten, die ich über Ihr Verhalten sammeln konnte, bestimmte Dinge ableiten kann.“ „Immer mathematisch logisch.“, lächelte Shimar. „Aber ich wette mit dir, dass du im Laufe unserer Zusammenarbeit längst mehr geworden bist, als die Summe deiner Subroutinen.“ „Sie schmeicheln mir erneut.“, stellte das Schiff fest. „Die tindaranische Rechtsprechung wird mich bestätigen.“, sagte Shimar. „Ich weiß.“, sagte IDUSA. „Vor dem Gesetz gelten wir als mit den biologischen Lebensformen, also mit Ihresgleichen, gleichgestellt. Es gibt zwar die Lex Technologica, aber sie regelt Sonderfälle, die nicht auf Organische anwendbar sind und sie enthält Formulierungen, die bei Ihnen auch sehr schlecht ankommen würden.“ „Ich weiß.“, sagte Shimar etwas gelangweilt. „Manche Dinge muss man eben anders nennen, um den guten Ton zu wahren und das sicher im wahrsten Sinne des Wortes.“

Er lehnte sich zurück und schaute erwartungsvoll in Richtung der Konsole für das Sprechgerät. „Was macht meine Verbindung, IDUSA?“, fragte er. „Joran sagt, er will versuchen, Zirell und Maron zu wecken.“, entgegnete das Schiff. „Offenbar ist auf 281 Alpha gerade tiefste Nacht.“ „Genau wie hier auch.“, stellte Shimar fest.

Einen kurzen Moment später sah er, wie das kleine Licht auf der Konsole zu blinken begann. „Ich habe Zirell für Sie.“, sagte IDUSA. „Gib sie her.“, sagte Shimar und nahm Haltung in seinem Sitz an. Sein Blick war starr auf die sich vor ihm befindende Konsole gerichtet. Anscheinend wollte er vor seiner Kommandantin einen zackigen Eindruck machen. „Was gibt es, Shimar?“, hörte er die noch leicht verschlafen klingende Stimme der älteren Tindaranerin aus dem Bordlautsprecher seines Schiffes, der auch gleichzeitig der Lautsprecher für das Sprechgerät war. Da er allein an Bord von IDUSA war und somit keine Informationen an fremde Ohren kommen konnten, die sie nichts angingen, erachtete er es nicht für notwendig, einen Ohrhörer zu benutzen oder sich das Gespräch gar auf den Neurokoppler legen zu lassen. „Warum lässt du mich von IDUSA und Joran zu dieser späten Stunde noch wecken?“ „Weil wir etwas höchst Merkwürdiges gesehen haben.“, sagte Shimar. „Ich meine, eigentlich hat IDUSA es gesehen. Plötzlich ist ein Breenschiff aufgetaucht, das aber eine viel ältere Antriebssignatur hinterlassen hat. Wenn es erst gerade in die Umlaufbahn gekommen wäre, dann wäre die doch viel jünger, oder? Jedenfalls hat IDUSA es so plötzlich gesehen, dass sie die Theorie für wahrscheinlich hält, dass es ein feindliches Schiff ist. Ich habe eigenmächtig entschieden, mit ihr zu starten, ohne deinen Befehl abzuwarten, sonst hätte sie die Werft womöglich noch in Trümmer geschossen.“ „Wieso sollte sie auf Stufe drei …?“, fragte die tindaranische Kommandantin. „Weil die auf der Werft was versaubeutelt haben, Zirell!“, sagte Shimar. „Obwohl ich sie genau instruiert hatte.“ „Shimar!“, tadelte sie ihn ob seiner Ausdrucksweise. „Du verbringst meiner Meinung nach viel zu viel Zeit mit einem gewissen Montgomery Scott.“ „Was soll ich machen?“, fragte Shimar unschuldig. „Die Beziehung zu Betsy kettet uns nun einmal aneinander.“ „Ich weiß.“, sagte Zirell beschwichtigend. „Du musst auch nicht immer jedes Wort gleich auf die Goldwaage legen, das ich sage. Aber nun zum dienstlichen Teil: Was hat IDUSA genau ausgemacht? Lass sie die Daten hierher überspielen.“ Shimar nickte und wandte sich dann an sein Schiff: „Du hast sie gehört!“ „Datenverbindung wird initiiert.“, lächelte der Avatar.

Die Tindaranerin überflog kurz die eingehenden Daten. Dann sagte sie: „Das ist ein ziviles Schiff. Aber es gibt da wohl doch einige Merkwürdigkeiten. Mit den Sensorenwerten über die Energieverteilung könnte wohl eher Jenna etwas anfangen. Ich werde ihr Bescheid geben und ihr die Daten in den Maschinenraum durchstellen lassen von Joran. Sie hat dort heute Nachtschicht. Wir sollten eine Konferenzschaltung programmieren, in der wir das, was du dort sehen wirst, in die ganze Interpretation mit einbeziehen.“ „Du befiehlst mir also, auf das Schiff zu beamen?“, fragte Shimar. „Genau das!“, sagte Zirell fest. „Laut IDUSAs Daten ist niemand an Bord. Du kannst also in Ruhe spionieren. Aber vergiss den Erfasser nicht. Auch den Neurokoppler solltest du aufsetzen und an dein Sprechgerät anschließen wie den Erfasser, damit IDUSA uns auch übermitteln kann, falls du etwas Merkwürdiges auf telepathischem Wege …“ „Bei allem Respekt, Zirell.“, unterbrach Shimar sie mit leicht genervter Betonung und nahm die Anschlussarbeiten an seinem Handsprechgerät direkt vor der Linse der Cockpitkamera vor. Damit wollte er verdeutlichen, dass er auf jeden Fall schon wusste, was sie ihm sagen wollte. „Ich bin kein Kadett mehr und IDUSA kennt auch die Protokolle für überwachte Außenmissionen. Sie wird mich mit dem Transporter hinbringen und mich dann über mein Handsprechgerät rufen. Ich werde die Verbindung annehmen und dann werdet ihr über alles informiert. Parallel wird sie euch noch Daten geben, die sie mit ihren eigenen Sensoren empfängt.“ „Na schön.“, sagte Zirell. „Dann sind wir uns ja einig. Sei aber vorsichtig da drüben. Nicht, dass du irgendeinem Anschlag von Sytania zum Opfer fällst.“ „Dass Sytania damit was zu tun hat, glaubst du also auch?“, vergewisserte sich der junge Flieger. „Allerdings.“, bestätigte seine Vorgesetzte. „Ich teile IDUSAs Theorie und vor allem Joran tut das. Er stand schließlich 90 Jahre lang in ihren Diensten und kennt sie wie kein anderer.“ „Das stelle ich nicht in Abrede, Zirell.“, lächelte Shimar. „Ich werde vorsichtshalber auch die Krankenstation in die Konferenz integrieren.“, sagte Zirell. „Man weiß ja nie. Ishans Wissen könnte auch von Nutzen sein.“ „OK.“, sagte Shimar und stand auf. „Sind Sie bereit?“, fragte IDUSA. „Das bin ich.“, nickte Shimar. „Du kannst im Übrigen das Meldeprotokoll beenden.“ „In Ordnung.“, sagte das Schiff. „Dann beame ich jetzt.“

Sytania und Dirshan hatten sich die Beobachtung der Situationen um Shimar und mich geteilt. Die Mächtige hatte mit ihren seherischen Fähigkeiten das Beobachten der Meinen, der Vendar das der Situation um IDUSA und Shimar übernommen. Das war auch das strategisch Klügste, denn Sytania hatte alle Hände voll damit zu tun, mich in meiner hypnotischen Suggestion zu halten. Sie musste ja immer wieder befürchten, dass entweder die Wirkung der Droge nachließ, denn Nathaniel könnte mir ja nicht genug gegeben haben, oder dass Shimar doch unter Umständen nicht abgelenkt genug war und vielleicht doch noch merkte, was mit mir vorging. Über die noch immer bestehende Schutzverbindung zwischen uns wäre ihm das ja durchaus möglich gewesen. Dann wäre Sytania durchaus Gefahr gelaufen, sich doch noch mit ihm duellieren zu müssen. Sie hoffte nur, dass Dirshan sie genau davor rechtzeitig warnen würde.

Die Mächtige nahm jetzt wahr, wie ich mich immer stärker dem Abgrund näherte, hinter dem der See begann. „Jetzt hast du dein Leben ausgehaucht, Betsy Scott! Jetzt stirbst du!“, flüsterte sie mit einem sehr schadenfrohen Grinsen.

Von ihrem Platz am Fenster aus sah jetzt auch Jasmin, wie ich das steile Ufer hinab und in das tiefe kalte Wasser stürzte. Jetzt muss sie doch aufwachen., dachte das Mädchen. Aber leider geschah nichts dergleichen. Im Gegenteil. Sie musste mit ansehen, wie ich reglos immer tiefer und tiefer sank. Erklären konnte sie sich diesen Umstand nur teilweise, denn sie hatte zwar die Amphore gesehen, wusste aber nicht genau, was darin gewesen war. Die Zeichen auf dem Hals des Gefäßes hatten ihr ja lediglich verraten, dass Sytania ihre Finger im Spiel hatte, aber nicht, was sich im Gefäß befunden hatte. Leider hatte sie auch keine Geräte, um derartiges analysieren zu können. Jasmin wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als die Anwesenheit eines Agenten des Föderationsgeheimdienstes. Ihr Schulwissen hatte dem Teenager gesagt, dass diese zuständig waren, wenn es einen feindlichen außerirdischen Einfluss gab und das war ja hier wohl eindeutig gegeben. Sie traute sich aber nicht, zur Sprechanlage zu gehen und den Notruf allein abzusetzen. Sie hatte starke Bedenken und wollte lieber abwarten, bis sie das in Gegenwart eines Erwachsenen tun konnte, dem man vielleicht doch mehr Glauben schenken würde, als ihr, die ja fast noch ein Kind war. Jasmin fühlte sich unglaublich klein und hilflos.

Maron war in die Kommandozentrale der Basis 281 Alpha geschlurft. Der erste Offizier war noch immer sehr schlaftrunken, denn Zirells Ruf hatte ihn unsanft aus seinen schönsten Träumen geweckt, in die er trotz fortgeschrittener Nacht erst gerade entglitten war. Schuld daran, obwohl man in diesem Zusammenhang sicher nicht davon im eigentlichen Sinn sprechen sollte, war Nitprin gewesen, die immer noch unter sehr starken Albträumen litt. Die IDUSA-Einheit der Station hatte von Maron den Befehl erhalten, ihn in so einem Moment sofort zu wecken. Deshalb hatte der Demetaner es auch vorgezogen, mit einem Ohrhörer im Ohr zu schlafen.

Zirell war sofort das müde Gesicht ihres Untergebenen aufgefallen, als Maron sich neben sie setzte. „Du bist ja ganz schön übernächtigt.“, stellte sie fest. „Dafür kann ich leider im Moment nichts.“, sagte der Demetaner zu seiner Verteidigung. „Es ist mein Pflegekind. Sie kann sich, wenn ich sie bei Tag befrage, leider an nichts erinnern. Aber unterbewusst scheint da doch einiges im Argen zu liegen. Sie träumt sehr schlecht und ich muss sie fast jede Stunde wecken!“ „Spricht sie dann im Schlaf, Maron El Demeta?“, fragte Joran in der Absicht, etwas Hilfreiches beizutragen. „Ja, das tut sie, Joran.“, bestätigte Maron. „Aber das sind nicht zusammenhängende gestammelte Sätze, an die sie sich selbst dann nicht mehr erinnert, wenn ich sie gerade erst geweckt habe. Zirell, vielleicht könnten du oder Nidell helfen.“ „Wir könnten es sicher versuchen, Maron.“, sagte die tindaranische Kommandantin und sah ihn fast mütterlich an. „Aber damit müsste sie natürlich einverstanden sein.“ „Ich werde sie darüber informieren, wenn ich wieder mit ihr spreche, Zirell.“, sagte Maron. „Vielen Dank.“ „Keine Ursache.“, sagte die ältere Telepathin lächelnd. „Diejenige, die am meisten leidet, ist ja wohl Nitprin selbst und wenn ich ihr helfen kann, dann tue ich das gern.“

Der Avatar des Stationsrechners zeigte sich allen über die Neurokoppler. „Ladies und Gentlemen.“, begann sie. „Ich habe etwas Interessantes für Sie.“ „Dann zeig es uns!“, befahl Zirell.

Dirshan hatte die Materialisierung Shimars an Bord des Breenschiffes beobachtet. „Der wird gleich eine Menge zu gucken haben, Gebieterin.“, informierte der junge Vendar seine Herrin. „Wovon sprichst du?“, fragte die imperianische Königstochter. „Na ja.“, sagte der Novize. „Was er da zu sehen bekommt, wird eine Menge offener Fragen aufwerfen. Dieser Demetaner wird alles genau wissen wollen und ihm sicher befehlen, das eine oder das andere Ding noch einmal genauer mit dem Erfasser zu scannen. Dann muss er das Gerät sicher auf viele Feinheiten einstellen und muss sich darauf sehr konzentrieren. Ihr werdet weiter unbehelligt bleiben. Was ich aber merkwürdig finde, ist die Tatsache, dass er sich offensichtlich auf dem Schiff frei bewegen kann. Hat Nathaniel El Taria denn gar keine Sicherheitsvorkehrungen eingebaut?“ „Nein, das hat er nicht.“, lachte Sytania. „Und dafür gibt es auch einen guten Grund. Ich wollte nicht, dass er das tut, damit meine Ablenkung auch gut gelingen kann. Es ist mir egal, wenn Shimar alles über das Schiff herausbekommt. Er soll sogar so viele Kleinigkeiten wie möglich finden, die ihm und seinem Commander und vor allem ihrem ersten Offizier viel Kopfzerbrechen bereiten sollen. Dann sind sie um so abgelenkter, was den Tod von einem gewissen Allrounder der Sternenflotte angeht.“ „Ihr solltet Eure persönliche Rache nicht über Eure Sicherheit stellen, mit Verlaub, Milady.“, sagte Dirshan. „Ich meine, wenn herauskommt, dass Nathaniel …“ „Nathaniel?!“, fragte Sytania empört. „Um den machst du dir Sorgen?! Nun, dann werde ich dir mal einiges über das Verhältnis zwischen ihm und mir erklären. Er ist eine Puppe, die man benutzt, solange man sie brauchen kann. Wenn ich ihn nicht mehr benötige, werde ich ihn sowieso über die Klinge springen lassen. Um so besser passt es mir, wenn sie ihm draufkommen. Sie können ruhig wissen, dass er das Schiff geklaut hat. Diese Information kann ihnen der liebe Shimar ruhig auf dem Silbertablett servieren. Hauptsache ist, sie stören mich nicht bei meinen eigentlichen Plänen.“ „Und wie lauten die, wenn ich dies, als Euer Untertan, fragen darf, Lady Sytania?“, fragte Dirshan. „Das wirst du noch früh genug gewahr werden.“, sagte die Angesprochene. „Diese Information werde ich mir als I-Tüpfelchen aufheben, wenn ich meine, dass es so weit ist. Aber bis dahin wirst du dich noch eine Weile gedulden müssen.“ „Dann werde ich warten, wie Ihr befiehlt, Milady.“, sagte Dirshan mit einem beschwichtigenden Blick zur Seite. Um nicht provokativ zu wirken, hatte der intelligente Junge es nicht gewagt, sie direkt anzusehen.

Auch Korelem war auf meine Situation aufmerksam geworden. Er hatte von oben schließlich einen sehr guten Überblick über den See. Aber das war nicht alles. Als hätte er es gewusst und schon damit gerechnet, hatte er über genau der Stelle Stellung bezogen, an der ich ins Wasser gestürzt war. Nun stieß er herunter und fasste mich mit Vorder- und Hinterfüßen, um mich aus dem Wasser zu ziehen. Aber im gleichen Augenblick bemerkte er, dass mein Körper von einer starken Unterströmung genau in die entgegen gesetzte Richtung gezogen wurde. „Na ja.“, flüsterte er. „Damit musste ich rechnen. Logar hat mir gesagt, dass sich seine Tochter hier einmischen wird. Also, keine Müdigkeit vorschützen und nicht aufgeben!“ Damit versuchte er mit aller Kraft, mich der Strömung zu entreißen.

Auch Jasmin hatte das Geschehen mit klopfendem Herzen beobachtet. Noch immer konnte sie sich nicht dazu durchringen, entgegen Korelems Anweisungen zu handeln und ihren Posten zu verlassen. Aber langsam beschlich sie das Gefühl, dass doch jemand etwas tun müsse. Sie hatte noch nie gesehen, dass der See eine Unterströmung entwickelt hatte. Dieser See, in dessen Nähe sie jetzt schon so lange arbeitete und in dem sie in diesem Sommer selbst schon so manches Bad genommen hatte. Wenn dies ein unberechenbares und gefährliches Gewässer war, dann konnte sie ja froh sein, dass ihr bisher noch nie etwas passiert war. Was ihr hätte passieren können, das sah sie jetzt vor allem an meinem Körper und an den Blättern der Wasserpflanzen, die nach unten gezogen wurden und deren Stängel teilweise einen richtigen Schwanenhals bildeten. Aber andererseits war ihr das alles auch viel zu plötzlich geschehen. So plötzlich, dass sie einfach nicht an ein natürliches Phänomen glauben wollte und konnte. Die Sache mit der Amphore war ja auch noch nicht so lange her! Was war, wenn Radcliffe mich nicht direkt mit deren Inhalt vergiften wollte?! Was war, wenn sich in dem Gefäß nur eine Droge befunden hatte, die hypnotische Einflüsse derart verstärken konnte, dass ich selbst in einer lebensbedrohlichen Situation nicht aufwachen würde und alles mit mir geschehen lassen würde?! Ihrem Wissen über Sytania nach würde sie unter Umständen genau so vorgehen. Laut dem, was über sie propagiert wurde, wollte sie zwar immer die Fäden ziehen, aber es sollte ihr nicht nachweisbar sein. Was Jasmin hier gesehen hatte, würde sehr gut dazu passen. Dazu, alles, was Sytania tat, wie einen Unfall aussehen zu lassen. Die Schülerin beschloss, doch noch keinen Notruf abzusetzen. Jetzt wurde ihr langsam klar, warum Korelem ihr diese Anweisung gegeben hatte. Bisher sah es ja noch immer so aus, dass es sich um ein natürliches Phänomen handeln konnte. Zumindest für die Leute, die kein großes Wissen über Sytania und ihr Vorgehen hatten. Sie musste noch mehr Beweise sammeln, bevor sie mit jemandem darüber reden konnte. Sie musste in jedem Fall etwas in der Hand haben, das mehr überzeugte, als das plötzliche Auftreten einer Unterströmung in einem See. Gut, da war noch die Amphore, aber was war, wenn Radcliffe die still und heimlich verschwinden lassen hatte? In sein Zimmer einbrechen und nach ihr suchen, das konnte sie schließlich nicht, ohne einen Haufen Ärger zu riskieren. Sie hoffte nur, dass Korelem mich retten konnte, denn dann wäre alles ganz einfach gewesen. Man hätte mich nur medizinisch untersuchen und meine Aussage aufnehmen müssen.

Durch einen Druck auf einen Sensor öffnete sie das Fenster. Dann lehnte sie sich ein kleines Stück hinaus, um besser sehen zu können, hielt sich aber mit der rechten Hand am Rahmen fest. Jetzt konnte sie noch besser wahrnehmen, was in der Mitte des Sees geschah. Hier bemühte sich Korelem noch immer sehr um meine Rettung. Aber auch die Gegenströmung wurde mit dem gleichen Maß, mit dem er zog, immer stärker. Zumindest hatte das Mädchen den Eindruck gewonnen. Die sehr kluge Jugendliche hatte sich zwischenzeitlich zum Messen der Strömung an der Tiefe der Blätter der Wasserpflanzen und an der Krümmung ihrer Stängel orientiert, um die Stärke in etwa zu berechnen. Der hat ganz schön zu kämpfen., dachte sie. Dabei muss er selbst sehr aufpassen, dass seine Flügel nicht nass werden.

Jetzt sah Jasmin, wie es ihm für einen kurzen Moment gelungen war, meinen Kopf aus dem Wasser zu ziehen. „Ja, Korelem!!!“, feuerte sie ihn an. „Sie schaffen das!!! Lassen Sie sich von Sytania nicht fertig machen!!!“

Von der Tatsache, dass ich bereits dem Ertrinken nahe war, hatte ich selbst nichts mitbekommen. Immer noch wähnte ich mich auf einem schönen Spaziergang durch einen Wald, von dem ich geträumt hatte. Ich war barfüßig und hatte eine kurze luftige weiße Bluse an. Um meine Hüften spielte ein bunter geblümter Rock. Es war sehr warm und in der Luft, die nur durch den Schatten der zahlreichen Bäume gekühlt wurde, lag der Duft von allerlei Wildkräutern. Hier bewegte ich mich nun federnden Schrittes und leise vor mich hin singend einen schmalen Weg entlang. Aber nicht nur ich sang, sondern auch viele kleine fröhliche Vögel.

Plötzlich bemerkte ich eine Hand, die sich langsam in die Meine schob und mich in eine andere Richtung zog. Dann hörte ich eine mir bekannte weibliche Stimme: „Hier geblieben! Es wird viel besser für dich sein, wenn du es von mir erfährst und vor allem wirst du dann deutlich leichter damit umgehen können!“ Verwirrt drehte ich mich zu ihr um und versuchte, mich aus ihrem Griff zu befreien, was mir aber nicht gelang. „Vergiss nicht.“, sagte sie. „Ich bin Telepathin! Ich weiß schon, was du vorhast, bevor du es ausführst.“ Jetzt hatte ich sie erkannt. Es musste sich um Shinell handeln, die tote Schwester meines Freundes. Aber warum war sie hier? Warum besuchte sie mich in meinen Träumen? Mir war aus der Mythologie der alten Griechen bekannt, dass die Toten die in ihren Träumen besuchen konnten, die Schuld auf sich geladen hatten. Aber was hatte ich getan? Gut, ich hatte die Sache mit Radcliffe in Gang gesetzt, aber das hatte ich doch schon längst bitter bereut! „Was tust du hier?“, fragte ich. „Warum besuchst du mich in meinen Träumen, Shinell?“ „Du verkennst leider die Sachlage.“, sagte die junge Tindaranerin. „Du träumst nicht. Zumindest nicht mehr. Und ich besuche dich auch nicht, Betsy. Sagen wir mal so: Du bist in meine Welt eingetreten. Aber du bist nicht zu Besuch.“

Panisch betastete ich mein rechtes Handgelenk. Aber von einer Silberschnur war nichts zu finden. „Nein!“, rief ich aus. „Shinell, sag mir bitte nicht, ich bin …!“ „Doch.“, sagte sie. „Du bist tot. Du wurdest von Sytania ermordet. Sie hatte Hilfe von einem gewissen Nathaniel Radcliffe. Ich habe alles beobachtet. Das können wir. Das wirst du auch noch lernen, jetzt, wo du zu uns gehörst. Die Quellenwesen haben mich zu deiner persönlichen Helferin bei der Akklimatisation ernannt. Ich weiß, dass es für dich schwierig sein wird, die Tatsache deines frühen Todes zu akzeptieren. Das ist bei Mordopfern so. Das weiß ich. Du bist nicht mein erster Auftrag. Aber du wirst dich schon daran gewöhnen. Das haben bisher alle geschafft. Wenn erst mal das große Vergessen einsetzt, dann wirst du dich auch nicht mehr in dein Leben als Sterbliche zurückwünschen. Im Gegenteil! Du wirst es als belastend und sogar vielleicht als Strafe empfinden. Du wirst nichts lieber wollen, als hier bei uns zu bleiben. Wer will denn auch schon eine Welt verlassen, in der ein bloßer Wunsch ausreicht, um sich seine Träume zu erfüllen? Nur in dein Leben zurück, das kannst du nicht mehr. Außer, wenn die Quellenwesen dich bestrafen wollen. Dann schicken sie dich in ein sterbliches Leben zurück. Aber das wird nicht das sein, das du kennst. Sie werden dafür sorgen, dass du als etwas völlig anderes wiedergeboren wirst.“

An meinem immer blasser werdenden Gesicht sah Shinell, dass es mir mit den Informationen, die sie mir gab, nicht wirklich gut gehen musste. „War das etwas viel für dich?“, fragte sie fürsorglich und setzte sich mit mir ins Gras. „Das kann man wohl sagen.“, sagte ich. „Aber warum sieht es hier genau so aus wie in meinem Traum? Das würde mich viel eher interessieren!“ „Wir wollten den Übergang für dich so gleitend wie möglich gestalten.“, sagte Shinell. „Du solltest nicht merken, was mit dir geschieht!“ „Das hättet ihr nicht tun sollen!“, sagte ich mit vorwurfsvollem Ton. „Dann hätte ich zumindest noch dagegen kämpfen können!“ „Das hättest du nicht!“, sagte Shinell fest. „Und ich werde dir jetzt auch zeigen, warum nicht!“

Wir glitten in eine Art schlafähnlichen Zustand ab. Dass dies eine Nebenwirkung gewisser tindaranischer Geistestechniken war, wusste ich von Shimar. Deshalb ließ ich es auch ruhig mit mir geschehen. Jetzt sahen Shinell und ich, die wir über dem See schwebten, wie mein Körper ertrank. „Hättest du das wirklich spüren wollen!“, fragte mich Shinell. „Glaub mir. Du hättest nicht schnell genug aufwachen können, um dich zu retten. Licht träumen und somit im Traum deinem Körper den Befehl geben zu schwimmen, kannst du nicht! Außerdem tut jeder, wenn er erwacht, zunächst einen tiefen Atemzug. Dass hätte deine Lungen noch mehr mit Wasser gefüllt und das hätte einen jämmerlichen Tod bedeutet. Du bist schließlich kein Fisch! Sie dir an, wie tief dein Körper bereits unter Wasser ist!“

Ich visualisierte meine Hand und ließ sie unter der Oberfläche nach meinem Körper tasten. „Oh, Gott!“, rief ich aus. „Du hast Recht, Shinell! Bitte, hol uns hier wieder raus! Ich habe es verstanden!“ „Also gut.“, sagte die junge Tindaranerin ruhig und kam meiner Bitte nach. Jetzt fanden wir uns auf dem Waldstück wieder. „Es gab also tatsächlich keine Möglichkeit?“, fragte ich. „Nein, Betsy.“, sagte sie fast zärtlich. „Aber glaub mir. Du wirst dich hier schon einfinden. Komm mit. Ich bringe dich zu meinen anderen Patienten. Es werden von Tag zu Tag mehr. Irgendwer muss in der Welt der Lebenden sein Unwesen treiben.“ „Ich weiß, wer das ist, Shinell.“, sagte ich. „Deshalb ist es wichtig, dass …“ „Alles zu seiner Zeit.“, sagte Shinell und nahm mich bei der Hand. „Ich habe das Gefühl, du wirst eine sehr schwierige Kandidatin werden.“, meinte sie, während wir zwischen den Bäumen hindurch auf eine lange Straße gingen. „Aber ich mag Herausforderungen!“

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