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Ich nahm also meinen Taststock, den ich, für eine Blinde des 30. Jahrhunderts sicher ungewöhnlich, immer noch gern benutzte. Das musste ich aber auch, denn aus bekannten Gründen durfte, konnte und wollte ich ja keinen Visor tragen. Die Implantate hätten bei meiner Rückkehr in mein Heimatjahrhundert zu viele Fragen aufgeworfen, die ich niemals hätte beantworten dürfen, denn dann hätte ich die Zeitlinie gefährdet und es wäre aus gewesen mit meinem Status als Pendlerin zwischen den Jahrhunderten. Aber auch meine Karriere bei der Sternenflotte wäre dann zu Ende gewesen. Auch das Vertrauen Dills, des Beherrschers und Beschützers der Zeit, hätte ich dann verloren und er hätte mich sicher auch gehörig bestraft. Ob Mikel, der sein Nennsohn war, dann noch ein gutes Wort für mich hätte einlegen können, war sehr fraglich. Aber das hätte ich, ehrlich wie ich war, sicher auch nicht gewollt. Wenn ich Scheiße bauen würde, dann würde ich auch dazu stehen!


Mein Weg führte mich aus dem Haus und auf die Straße. Hier aber sollte ich bald eine riesige Überraschung erleben. Die Geräusche, die ich nämlich wahrnahm, erschienen mir sehr chaotisch. Überall hörte ich das typische Piepen des Notfallsystems von elektrisch betriebenen Jeeps, das normalerweise den Fahrern im Notfall assistieren und sie bei ihren Entscheidungen unterstützen sollte. Dies war nur möglich, da die Fahrzeuge über eine direkte Datenverbindung mit dem Verkehrsleitsystem vernetzt waren. Da dieses aber offensichtlich nicht wirklich funktionierte, kam dabei nur Chaos heraus und ich hatte den Eindruck, die Leute verließen sich nur noch auf die Displays und nicht mehr auf das, was sie mit den eigenen Augen vor den Fenstern ihrer Fahrzeuge sahen. Alle kamen mir so schrecklich hilflos vor. Selbst Fußgänger stolperten um einander. In diesem Moment kam mir eine Äußerung Agent Sedrins in den Kopf. „Nicht zu fassen, wie technologiegläubig wir geworden sind!“, hatte sie gesagt. Das war zwar in einem anderen Zusammenhang gemeint gewesen, passte hier aber auch genauso gut.


Ich wandte mich dem Würfel zu, über den ich meine Absicht, die Straße zu überqueren, dem Verkehrsleitsystem mitteilen wollte, wie ich es hier gelernt hatte. Die Antwort des Computers verwirrte mich aber gleichermaßen, denn sie bestand nur aus unzusammenhängenden Satzfetzen, der Uhrzeit, die noch nicht einmal stimmte, und Teilen von irgendwelchen Wegbeschreibungen. Ich schloss sogar ernsthaft aus, dass der Rechner mich überhaupt verstanden hatte. „Ist schon gut.“, flüsterte ich und strich über das glatte Gehäuse des Würfels. „Ich weiß ja, dass du total überfordert bist. Macht nichts! Ich nehme dann eben den langen Weg.“


Ich drehte mich parallel zur Bordsteinkante und ging daran entlang, wie ich es von zu Hause aus, ohne die Annehmlichkeiten des 30. Jahrhunderts, gewohnt war. Dabei bemerkte ich nicht, wie meine Gedanken langsam abschweiften. Unwillkürlich wurde ich in die Situation zurückversetzt, als ich Commander Kissara mittteilen musste, dass ich nach einem kurzen Aufenthalt auf der Erde bereits erneut Heimaturlaub benötigte. Es war mir fast peinlich gewesen, also hatte ich nur unter stark klopfendem Herzen ihren Bereitschaftsraum aufsuchen können. Das Betätigen der Sprechanlage fiel mir auch nicht gerade leicht. „Kommen Sie doch rein, Allrounder.“, hatte sie freundlich gesagt, nachdem sie mein aufgeregtes Gesicht im Display der Anlage wahrgenommen hatte. „OK, Madam.“, hatte ich geantwortet und dann mit klopfendem Herzen den Raum betreten, nachdem die Tür vor mir zur Seite geglitten war. Das Nächste, das ich gespürt hatte, war ihre weiche Hand gewesen, die mich an eine überdimensionierte Katzenpfote erinnerte. Wer wusste, dass sie Thundarianerin war, für den war das sicher nichts Ungewöhnliches. Also auch nicht für mich.


Sie führte mich zu ihrem Schreibtisch. Hier setzten wir uns beide und dann fragte sie: „Na, was haben Sie denn heute auf dem Herzen?“ „Steht in nächster Zeit eine Mission an, Commander?“, fragte ich mit leicht zitternder Stimme. „Meines Wissens nicht.“, antwortete sie gleichmütig. „Warum wollen Sie das wissen?“ „Weil, weil.“, stammelte ich. „Weil ich Sie eigentlich schon wieder um Urlaub bitten muss, Commander.“


Sie stand von ihrem Platz auf und ging zum Replikator. Hier ließ sie uns beiden eine Tasse Kaffee servieren, mit der sie dann zurückkam, um eine der Tassen vor mir abzustellen, bevor sie die eigene mit zu sich nahm. Mit zu sich bedeutete in diesem Fall, dass sie mir gegenüber saß.


„Wir kratzen doch nur an der Oberfläche, Betsy.“, stellte sie fest, nachdem wir beide einen tiefen Schluck genommen hatten, sie mich aber dabei mit ihrem scharfen Katzenblick genau beobachtet hatte. „Ein Urlaubsantrag kann doch nicht den Untergang der Welt bedeuten.“ „Das sicher nicht, Madam.“, sagte ich. „Zumindest nicht normalerweise. Aber in diesem Fall ist das etwas anders, weil ich schon wieder einen stelle.“ Ich zog ein Pad mit dem vorbereiteten Formular aus der Tasche und schob es ihr hin. Sie las sich den Inhalt durch und sagte dann: „Nun. Sie gelten als jemand, die sehr diszipliniert ist und niemals ohne Grund dem Dienst fern bleiben würde. Jetzt wird etwas passieren, mit dem Sie sicher nicht gerechnet hätten. Aufgepasst!“


Ich bekam mit, wie sie ihre akustische Unterschrift unter meinen Antrag setzte. Diese Tatsache verwunderte mich so sehr, dass ich wie versteinert da saß und nicht in der Lage war, das Pad wieder aus ihrer Hand entgegenzunehmen. „Nun nehmen Sie schon.“, ermutigte sie mich. „Oder sollen wir etwa den ganzen Tag hier so sitzen? Sie haben als Grund für Ihren Urlaubswunsch ein familiäres Ereignis angekreuzt. Darf ich wissen, was uns demnächst ins Haus steht? Oder ist Ihnen das zu privat?“ „Um ehrlich zu sein.“, antwortete ich, die ich mich in diesem Augenblick sehr ertappt fühlte. „Das Ereignis findet gar nicht in meiner Familie statt, sondern in der einer guten Freundin. Ich weiß, dass ich eigentlich den Punkt dann zu Unrecht angekreuzt habe, Aber …“ „Sie schleichen ja um den heißen Brei wie eine Katze.“, sagte Kissara und lächelte dabei. „Da könnte man ja echt neidisch werden. Sie können das ja besser als ich! Dabei habe ich die Samtpfoten! Zumindest, wenn ich die Schuhe ausziehe. Also, was ist los?“


Ich atmete tief durch und setzte mich aufrecht hin. Dann fragte ich: „Was wissen Sie über die Fortpflanzungspraktiken der Bewohner von Cryalis neun?“ „Nun.“, antwortete meine vorgesetzte Offizierin. „Sie tun es auf ähnliche Weise wie die Pinguine auf der Erde. Nur benötigen sie für den Tanz jemanden, der für sie singt. Eine solche Person heißt Cantira oder Cantiro und hat einen sehr hohen Stellenwert in ihrer Gesellschaft, denn sie hat eine sehr hohe Verantwortung. In ihren Händen, beziehungsweise ihrer Stimme und ihrer Fähigkeit, den Takt zu halten, liegt schließlich die Sicherheit eines ungeborenen Kindes.“


Sie schien erst jetzt wirklich zu verstehen, was ich gemeint hatte, denn sie sprang plötzlich auf und drückte mich an sich. Dann brach es aus ihr heraus: „Herzlichen Glückwunsch zu dieser Ehrung, Allrounder! Sie sind zweifelsfrei sehr musikalisch! Das wird Ihnen niemand absprechen. Sie werden sicher eine hervorragende Cantira abgeben! Ich höre Sie ja des Öfteren mal singen und das klingt gar nicht so schlecht! Erst neulich hat mir Mikel erzählt, dass er Sie während Ihrer gemeinsamen Schulzeit sogar in den dortigen Chor werben wollte.“ „Das stimmt.“, gab ich zu. „Ihr erster Offizier hat Recht. Warum ich damals genau nein gesagt habe, weiß ich heute nicht mehr. Aber das ist ja auch nebensächlich. Ich bin nur froh, dass Sie mir meinen Urlaub doch genehmigen. Ich hatte schon gedacht, stärkere Geschütze auffahren zu müssen. So was wie das Erforschen fremder Kulturen zum Beispiel. Das tun Sternenflottenoffiziere doch auch.“ „Ach so.“, sagte Kissara und grinste verschmitzt. „Dann nehme ich die Genehmigung Ihres Urlaubs gleich mal zurück und wandle sie um in einen Auftrag für eine Außenmission. Dann kann uns zweien auch niemand vom Oberkommando den Kopf abreißen. Verstehen Sie?“ Sie strich mir konspirativ mit ihren Schnurrhaaren über die jetzt nach dem Pad ausgestreckte rechte Hand. Sie wusste schließlich, dass ich mit einem Blick nicht viel anfangen konnte. Dann schnurrte sie: „Ich bin auf Ihrer Seite. Wann verstehen Sie das endlich? Sie sind doch sonst immer so intelligent. Das zeigt doch auch Ihr kleiner juristischer Trick mit dem Ankreuzen des Familienereignisses.“ „Na ja.“, zögerte ich. „Der Haken ist nur, dass ich dann zu ehrlich bin und sofort zugebe, dass es gar nicht wirklich so ist. Dafür bin ich dann einfach nicht abgebrüht genug.“ „Nein, das sind Sie nicht.“, bestätigte sie. „Aber ich bin froh, dass es so ist. Das macht sie nämlich zu einer Person, der man vertrauen kann und die kein halbseidenes Geschäft hinter dem Rücken führt. Sie sind völlig OK, so wie Sie sind, Allrounder. Ich habe lieber eine ehrliche Offizierin, der ich vertrauen kann, als eine halbe Kriminelle am SITCH und am Steuer meines Schiffes! Wenn die Grenze nämlich einmal überschritten ist, fallen meiner Ansicht nach die Hemmungen viel zu leicht! Also bleiben Sie gefälligst, wie Sie sind, Allrounder! Das ist ein Befehl, Verstanden?!“ Ich nickte und sagte fast automatisiert: „Aye, Commander!“ Dann verließ ich ihren Raum.


Jenes plötzliche Ereignis, das mich jetzt in Little Federation in die Realität zurückholte, vermochte ich zunächst nicht einzuordnen. Ich spürte nur, dass mich etwas berührt hatte und dass dieses Etwas und ich jetzt gemeinsam hinfielen. Das Etwas benutzte ebenfalls einen Taststock. Dazu fiel mir nur einer ein, nämlich Mikel. Er hatte zur gleichen Zeit Urlaub genommen wie ich. Deshalb nahm es wohl nicht Wunder, dass wir uns begegnet waren. Unser Zusammenstoß hatte allerdings zur Folge, dass ich rücklinks auf dem Bürgersteig landete. Dabei fiel mir die Tasche mit meinem Pad herunter, indem sie einmal über meinen Kopf segelte und der Riemen, der sie um meinen Hals und meine Schulter fixiert hatte, sich von dort abstreifte. Somit landete es mit lautem Krach auf der Straße und ich mit meinem ganzen Gewicht oben drauf. Am Splitternden und knackenden Geräusch stellte ich bald darauf fest, dass es diese Aktion wohl kaum überlebt haben konnte.


Mikel, den es ebenso umgerissen hatte, zischte mir nur auf Deutsch, unserer gemeinsamen Muttersprache, zu: „Du passt wohl auch nicht auf, wo du hinläufst, was?“ „Tut mir leid.“, entschuldigte ich mich. „Ich war wohl in Gedanken.“ „Das merkt man.“, sagte Mikel, sammelte seinen Stock auf und stand auf. Ich tat das Gleiche, allerdings erheblich langsamer. Dann begutachtete ich die Reste meines Pads. „Das Ding kann ich falten, knicken und in die nächste Tonne treten!“, sagte ich mit viel Frustration in der Stimme. „das würde ich auch sagen.“, sagte Mikel, der sich anhand der Geräusche schon denken konnte, was gerade passiert war. „Was wolltest du denn damit hier?“


Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. „Den Großteil kenne ich schon.“, sagte Mikel. „Kissara war so begeistert, dass sie mir alles gleich erzählt hat. Aber die Sache mit dem Streit zwischen Scotty und dir ist echt übel! Wir sollten in den Stadtpark gehen und das alles mal richtig durchquatschen. Vorausgesetzt wir kommen irgendwie über diese Straße!“ Ich gab einen bestätigenden Laut von mir und hängte mich bei ihm ein. „Also gut!“, sagte er und versuchte dabei viel Selbstvertrauen zu versprühen. Er, der schon immer der Risikofreudigere von uns war. „Auch, wenn wir die Einzigen sind, die ohne Displays und Fahrassistenz noch die Verkehrsregeln zu kennen scheinen! Komm schon!“, sagte er.


Er zog mich neben sich in Richtung Straße, aber bevor wir dort ankamen, verlangte etwas nach unserer Aufmerksamkeit. Das Geräusch, das wir hörten, unterschied sich sehr von denen, die wir bisher wahrgenommen hatten. Es handelte sich zwar auch um ein Signal, aber es war keines der üblichen Notsignale, die bisher über die Straßen gehallt waren. Im Grunde war es zwar auch nichts anderes, wenn man bedachte, dass eine Hupe auch im 30. Jahrhundert als Warnsignal galt, aber irgendwie beruhigte es mich, die ich mich aufgeregt und ängstlich an Mikel klammerte. Irgendwie ahnte ich wohl schon, dass wir jetzt Hilfe bekommen würden.


Tatsächlich hielt bald genau vor uns ein Jeep und ein Fenster schnurrte herunter. Dann wurden wir von dem Fahrer in gutem freundlichen Englisch angesprochen. Er machte keine grammatischen Fehler, hatte aber einen leichten Akzent, den ich sofort als asiatisch einstufte. Genauer dachte ich sogar, eindeutig zu hören, dass er japanische Wurzeln haben musste. Auch seine Stimme war mir bekannt. „Hi, Mr. Takahashi.“, sagte ich überrascht, aber gleichzeitig sehr erleichtert. „Hallo, Allrounder.“, sagte er erleichtert über die Tatsache, offensichtlich mit uns in Dialog treten zu können. „In ungefähr 300 m kommt eine Parkbucht.“, fuhr er fort und schaltete das Sprechgerät seines Fahrzeugs auf einen der lokalen Unterhaltungssender. Er konnte sich denken, dass wir den Antrieb wohl kaum hören und schon gar nicht mehr von den anderen Geräuschen unterscheiden können würden in unserer Aufregung. Da musste er schon ein deutlicheres Signal setzen. „Folgen Sie bitte der Musik.“, sagte er. In der Bucht können Sie dann einsteigen. Ich erkläre Ihnen alles.“


Wir nickten ihm zu und er setzte sein Fahrzeug im Schritttempo in Bewegung. Wir folgten parallel zur Straße auf dem Bürgersteig. Ich vertraute Heroito Takahashi. Ich kannte ihn schließlich recht gut. Wir hatten schon einmal zusammen an einer Mission teilgenommen und da war es ihm sogar gelungen, mir das Wasserskifahren beizubringen. Wenn auch nur in der Simulationskammer, aber er hatte es geschafft, mir das richtige Werkzeug an die Hand zu geben, mit dem ich meine Angst besiegt hatte. Mikel kannte ihn nicht so gut. Sie waren gute Nachbarn, mehr aber auch nicht.


Wir waren bald an der Parkbucht angekommen und er hatte den Jeep dort abgestellt. Dann war er ausgestiegen, um Mikel zur Beifahrertür und mich zur hinteren rechten Tür zu bringen. „Oder wollen Sie vorn sitzen?“, fragte er mich. Ich schüttelte nur den Kopf und antwortete knapp: „Hinten ist schon OK, Tak.“ Dass ich seinen Spitznamen kannte und auch benutzte, wusste er. Für die meisten anderen Leute in seiner Umgebung war sein japanischer Nachname so schwer auszusprechen, dass selbst Vorgesetzte bei der Sternenflotte ihn Tak nannten. Das hatte er aber aus den eben erwähnten Gründen auch selbst angeboten.


Alle drei bestiegen wir wieder das Fahrzeug und Tak ließ auch das Fenster wieder hochfahren. Dann fuhr er langsam wieder aus der Parkbucht. Dabei gab er einen erleichterten Seufzer von sich und sagte etwas auf Japanisch, dass ich in Etwa sehr frei mit: „Uff! Zumindest habe ich die Beiden aus der Gefahrenzone und von der Straße.“, übersetzte. Dann wandte er sich an uns: „Glauben Sie dem Verkehrsleitsystem bloß kein Wort! Es spielt total verrückt!“ „Wissen wir.“, erwiderte Mikel.

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