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Nachdem ich den anderen gesagt hatte, was das Gespräch mit Scotty ergeben hatte, hatten uns fast alle verlassen und Sedrin und ich wähnten uns mit Invictus allein. Nur seinen Erfasser hatte Joran der Agentin überlassen. Er und sie wussten zwar, dass sie damit gegen Cupernicas Verbot verstießen, aber die Situation hatte sich grundlegend geändert. Das Nutzen eines Erfassers war bitternötig geworden.

Die Agentin hatte das Gerät jetzt schon ziemlich oft über Invictus kreisen lassen. Zwischen den einzelnen Untersuchungen waren jetzt schon weniger als fünf Minuten vergangen. „Er wird immer schwächer.“, sagte die Agentin. „Wenn Ihr Mann sich nicht beeilt, dann wird das sein Tod sein. Wenn ein mächtiges Wesen auf diese Weise verletzt wird …“ „Sie erzählen mir da nichts Neues.“, sagte ich. „Ich bin auch ausgebildete Sternenflottenoffizierin. Ich weiß auch, dass die Mächtigen nicht so unsterblich sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Untereinander können sie sich schon sehr gefährlich werden.“ „Das ist richtig.“, sagte Sedrin. Aber gerade deshalb ist es ja so wichtig, dass Scotty rechtzeitig …“

Sie hatte ihren Satz unterbrochen, denn etwas hatte sie wohl aus dem Konzept gebracht. Das Etwas war ein Schatten, der jetzt hinter der Stalltür sichtbar wurde. Sie ging näher und erkannte im fahlen Licht die Gestalt von James. „Was machst du denn hier?“, fragte sie. „Geh Spielen! Das hier ist nichts für kleine Kinder.“ „Aber ich will doch nur dem armen kranken Einhorn helfen.“, sagte James traurig. „Wenn ich krank bin, dann is’ mein Dad’ auch immer da und liest mir vor. Das kann ich zwar noch nich’ so gut. Ich bin ja erst sechs, aber ich könnte ihn doch streicheln. Vielleicht hat er das ja gern.“ „Na gut, in Mutter Schicksals Namen!“, sagte Sedrin etwas mürrisch, der es gar nicht passte, dass er jetzt dabei sein und alles mitbekommen würde, das sie und ich bezüglich des Einhorns besprachen. Es war ja schon schwierig, dies gegenüber zivilen Erwachsenen geheim zu halten. Wie sollte uns das erst gegenüber einem Kind gelingen?

Sedrin zog den Kleinen in unsere Richtung. Dann parkte sie ihn an Invictus‘ Seite. „Streichle seinen Hals!“, sagte sie. „Da haben es zumindest Pferde am liebsten. Im Grunde ist er ja im Moment auch nichts anderes als ein krankes Pferd mit einem großen Horn.“ „Lassen Sie das bloß Ihren Mann nicht hören, Agent.“, sagte ich und grinste sie an. „Der würde das jetzt bestimmt nicht gern …“ „Das ist mir egal!“, sagte Sedrin. „Auch Jaden H. Huxley wird begreifen müssen, dass Invictus nicht mehr der strahlende Mächtige ist, als den er ihn gern sehen würde. Aber das kann er ja wieder werden, wenn es uns gelingt, sein telepathisches Zentrum rechtzeitig zu stimulieren. Ich hoffe nur, dass Ihr Mann rechtzeitig mit dem Bau des Gerätes fertig wird.“ „Das hoffe ich auch, Agent.“, sagte ich.

James hatte sich nicht mehr für unsere Gespräche interessiert. Er war vollends darin aufgegangen, den armen kranken Invictus zu bedauern, zu streicheln und zu kraulen. „Armes krankes Einhorn.“, sagte er mit mitleidigem Ton in der Stimme. „Wer hat dich denn so krank gemacht?“ Er wandte sich Sedrin zu: „Tante Sedrin, wer war das?“

Die Agentin schnaubte durch die Nase. Mit seiner Frage hatte sie nicht gerechnet. Wie sie ihm diese beantworten sollte, wusste sie allerdings auch nicht. Sie würde die komplizierten Zusammenhänge sicher nicht kindgerecht erklären können. Er würde aber keine Ruhe geben und bevor er etwas in den falschen Hals bekäme, würde sie besser dafür sorgen, dass es ihm von jemandem erklärt wurde, die so etwas gut konnte. „Die Tante Betsy kann dir das bestimmt sehr viel besser erklären als ich.“, sagte sie. „OK.“, sagte James und wandte sich mir zu. Seine Erfahrungen mit meinen Methoden hatten ihm gezeigt, dass er mir durchaus vertrauen konnte. „Tante Betsy.“, fragte er. „Wer war so gemein zu dem armen Invictus und warum?“

Ich suchte nach seiner kleinen Hand und nahm sie. Dann sagte ich: „Komm, James! Wir beide setzen uns ins Heu und dann erkläre ich es dir.“ „Oh ja.“, sagte James und führte mich zu einem Heuballen, der in der Ecke des Stalls lag. Er musste von dem Stapel, den Tchiach und Sam besorgt hatten, übriggeblieben sein. Auf diesen setzten wir uns und ich zog ihn dicht an mich. Dann begann ich: „Weißt du, James, da gibt es den Invictus und die Valora. Die Beiden leben zusammen so wie deine Mummy und dein Daddy. Die Valora ist auch ein Einhorn wie der Invictus. Aber der hat mit einer anderen Stute, mit der Kipana, zwei Fohlen. Das fand die Valora nicht gut und hat sich mit ihm gestritten.“ „Warum hat der Invictus das gemacht?“, fragte James. „Hat er die Valora nich’ mehr lieb? Is’ das wie bei meiner Mummy und meinem Daddy? Die hatten sich auch nich’ mehr lieb. Deshalb is’ meine Mummy gegangen. Aber sie hat gesagt, sie is’ trotzdem immer noch meine Mummy. Ich darf jedes Wochenende und in den Ferien zu ihr, weißt du? Warum mussten die sich denn so streiten, Tante Betsy? Meine Mummy hat meinen Daddy doch auch nich’ krank gemacht.“ „Weil die Valora nicht verstanden hat, dass es wichtig war, dass der Invictus das gemacht hat.“, sagte ich. „Warum is’ das wichtig?“, fragte der kleine Junge neben mir, den ich mittlerweile als sehr intelligent für sein Alter einschätzte. Mit einfachen Phrasen würde er sich nicht abspeisen lassen. „Schau mal.“, sagte ich. „Du würdest doch sicher heute auch nicht mehr in ein Feuer fassen, weil du weißt, dass es wehtut und du dich verletzen kannst. Der Invictus will, dass seine Kinder wissen, dass man ganz vorsichtig mit der Natur sein muss. Deshalb hat er die Kinder mit dem Pferd. Er hat Angst, dass die Einhörner sonst irgendwann vergessen, wie kostbar alles ist.“ „OK.“, sagte James. „Du meinst also, wenn sie wissen, dass sie sich verletzen können, dann passen sie besser auf?“ „Richtig.“, lobte ich. „Genauso, wie du auch aufpasst, weil du weißt, dass du dich verletzen kannst.“ „Aber dann is’ die Valora ja dumm, wenn sie das nich’ versteht.“, sagte James. „Dumm ist sie sicher nicht.“, sagte ich. „Sie ist nur eifersüchtig. Das hat die böse Prinzessin Sytania ausgenutzt. Sie hat die Valora immer und immer wieder angestachelt. Deshalb hat sie den Invictus krank gemacht. Die böse Sytania mag den Invictus nämlich nicht, weil er verhindern kann, dass sie alles erobert.“ „Das is’ gemein von der bösen Sytania!“, schluchzte James. „Was machen wir denn jetzt?“ „Jetzt!“, sagte ich zuversichtlich und stand auf, denn ich hatte ein Geräusch gehört, das sich fast wie die Atmosphärentriebwerke eines Raumschiffs anhörte. „Jetzt warten wir auf den Onkel Scotty.“ Derweil dachte ich: Wie auf Stichwort.

Von seinem Fenster aus hatte Sam die Landung von Kamurus mitten auf seiner Weide beobachtet. Was er da sah, vermochte er zuerst nicht wirklich einzuordnen. Da landete einfach ein Raumschiff auf seiner Wiese! Ein Raumschiff! Als ob es nicht in den letzten Tagen schon genug seltsame Vorfälle gegeben hatte, seit wir und die Tindaraner, wie Huxley Joran, Jenna und Tchiach immer noch nannte, eingetroffen waren! Jedenfalls beschloss er, sich die Sache mal genauer anzusehen und ging hinüber.

Er hatte das Schiff gerade erreicht, als sich an ihm eine Luke öffnete und eine junge kesse Celsianerin seinem Cockpit entstieg. Die grinste Sam an: „Hi, Mister! Sind Sie der Chef hier? Mein werter Name is’ Ginalla! Scotty schickt mich! Wo darf ich abladen?!“ Angesichts ihrer Art hatte es Sam zuerst die Sprache verschlagen. Er deutete nur auf den Stall. „Ah.“, machte Ginalla. Dann nahm sie ihr Sprechgerät aus der Tasche und gab Kamurus’ Rufzeichen ein. Dann sagte sie: „Du hast den Mann gehört.“, und war in einer immer durchsichtiger werdenden Säule aus Energie verschwunden.

Sie wurde wieder im Stall materialisiert. Allerdings war sie nicht allein. Neben ihr stand jetzt das Gerät aus Kamurus’ Frachtraum. „Ginalla!“, sagte Sedrin erleichtert, die sie zuerst gesehen hatte. „Sie schickt der Himmel!“ „Nein, eigentlich bloß der Scotty!“, berichtigte die Celsianerin und grinste. Dann machte sie sich daran, diverse Kabel und Kleinteile auszupacken, die sie an das Gerät anschloss. Als Letztes kam eine Art überdimensionierter Fingerhut zum Vorschein, der silbrig glänzte und an dessen Spitze und Basis sich jeweils ein Pol befand, der jetzt mittels Kabeln mit dem Gerät verbunden wurde. Dann gab Ginalla den Fingerhut in Sedrins Hände: „Stülpen Sie den bitte über Invictus‘ Horn, Agent.“, sagte sie. „OK.“, sagte Sedrin und näherte sich dem Einhorn vorsichtig. „Ganz ruhig.“, sagte sie leise. „Wir wollen dir nur helfen. Was ich jetzt mache, tut sicher nicht weh.“

Sie senkte ihren Blick in Richtung Horn. Dabei bemerkte sie erst jetzt, dass dieses sehr eingefallen war. Angesichts der Tatsache, dass er fast alle seine Kräfte eingebüßt hatte, war dies aber kein Wunder. Sehr vorsichtig stülpte sie den Fingerhut nun darüber. Dann reichte ihr Ginalla noch eine medizinische Klemme, mit der sie ihn an seiner Basis fixierte. Diese war innen gepolstert, so dass sie ihn nicht schmerzen konnte. „Fertig, Ginalla.“, sagte Sedrin. „OK.“, sagte die Celsianerin. „Ich schalte ein!“

Sie aktivierte das Gerät und Invictus begann sofort damit, sich zu entspannen. Er schmatzte laut, kaute und malmte und gab hin und wieder ein lautes Schnauben und Grunzen von sich. „Wir scheinen auf dem richtigen Weg zu sein.“, sagte Sedrin. „Können Sie die Stärke der Stimulation noch erhöhen, Ginalla?“ „Das könnte ich schon.“, sagte die Angesprochene. „Aber zu viel Medizin auf einmal is‘ sicher auch nich’ gut.“ „Wir werden sehen.“, sagte die Agentin. „Stellen Sie 10 % mehr ein. Allrounder Scott und ich werden sein Verhalten genau beobachten.“ „Na dann auf Ihre Verantwortung.“, sagte Ginalla und tat, was ihr Sedrin soeben gesagt hatte.

Der Hengst schien sich mit jeder Stufe, um die Ginalla die Leistung des Gerätes erhöhte, sichtlich wohler zu fühlen. Jedenfalls verstärkte er auch im gleichen Maße seine Anzeichen von Wohlbefinden.

„Wir sind auf Maximum.“, sagte Ginalla schließlich. „Mehr geht nich’.“ „Gut.“, sagte Sedrin nüchtern. „Weisen Sie mich in die Bedienung des Gerätes ein. Ich werde es dann allen anderen erklären. Teilen Sie Mr. Scott mit, dass seine Erfindung erfolgreich war. Wir sollten Invictus aber auch nicht zu viel zumuten.“ „Keine Angst, Agent.“, sagte Ginalla. „Das Gerät schaltet sich selbstständig nach zehn Minuten ab. So haben wir es zumindest programmiert. Zehn Minuten am Tag sollten reichen. Aber das zeige ich Ihnen ja gleich alles, Agent. Wenn Sie’s kapiert haben, fliege ich wieder ab.“ „OK.“, sagte Sedrin. „Ein zu langer Aufenthalt bei uns könnte Sie schließlich verdächtig machen und ich bin sicher, Sytanias Vendar beobachten uns. Sie finden es sicher nicht gut, dass wir Invictus helfen.“ „Mein Reden.“, flapste die junge Celsianerin. „Obwohl wir schon für ’ne ganz gute Ablenkung gesorgt haben. Aber das erkläre ich Ihnen alles noch. Aber nun erst mal auf die Schulbank mit Ihnen, meine Gute!“ Sedrin nickte und begab sich neben Ginalla an den Monitor. Dann begann ihr Unterricht, während ich mich wieder James zuwandte, den ich, um Sedrin zu helfen, Invictus‘ Verhalten zu interpretieren, kurz verlassen hatte.

 

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