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Ihre seherischen Fähigkeiten hatten Sytania verraten, dass ihr Plan gründlich in die Hose gegangen war. Mit sehr schlechter Laune saß sie vor dem Kontaktkelch. Dies wiederum hatte Telzan bemerkt, der sich ihr langsam und ehrfürchtig genähert hatte. „Was ist Euch, Herrin?“, fragte der Vendar mit einem fast mitleidigen Blick. „Ach, es ist Tchey Neran-Jelquist.“, sagte die Königstochter. „Anscheinend haben wir sie doch gewaltig unterschätzt. Sie ist nicht auf meine Schliche hereingefallen! Im Gegenteil! Sie hat sogar ihr Schiff dazu angehalten, Beweise gegen mich zu sammeln! Und als ob das nicht schon genug wäre, hat sie dann auch noch eine alte Bekannte getroffen, die auch noch die Adoptivtochter der Obersten Prätora ist! Wie kann man nur so viel Glück haben?!“ „Dieses Glück wird ihr aber nicht viel helfen!“, sagte Telzan und grinste sie an. „Meine Leute und ich haben nämlich vorgesorgt, wenn es demnächst zum Untergang aller Dimensionen kommen wird. Bitte kommt mit mir.“ „Ich bin neugierig, was ihr da gemacht haben wollt.“, sagte Sytania. „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Sterbliche da etwas ausrichten können, aber gut. Ich will dir mal folgen.“

Sie stand von ihrem Thron auf und folgte Telzan in einige Katakomben, die sich unter dem Schloss befanden. Hier stand in einer Kammer die Hälfte des Webstuhls des Schicksals, die Sytanias Soldaten erbeutet hatten. Aber sie stand da nicht allein. Die fehlende Hälfte war durch eine gewöhnliche Hälfte ersetzt worden, die vendarische Zimmerleute angefertigt hatten.

Die Prinzessin ging um das Werk herum und schaute es sich von allen Seiten an. Dann fragte sie: „Und was soll uns das nützen, du einfältiger Narr?! In diesem Zustand wird der Webstuhl seine Macht wohl kaum entfalten können. Du hast wohl ganz vergessen, dass seine eine Hälfte aus ganz gewöhnlichem Holz besteht!“ „Das habe ich nicht vergessen, Herrin.“, sagte Telzan. „Das habe ich ganz und gar nicht vergessen. Nächtelang haben meine Leute und ich uns den Kopf zerbrochen, wie wir dieses Problem lösen können. Zum Glück ist uns dann auch gleich etwas eingefallen. Ihr könntet das doch sicher mit Eurer Macht kompensieren. Auf Logars Seite der Dimension soll es ein Spinnenmännchen Namens Akantus geben. Er hat mit seinem Faden schon einmal zum Sieg des Guten beigetragen. Töten könnt Ihr ihn nicht, weil er selbst ein Mächtiger ist und sich bestimmt wehren würde. Aber Ihr könntet einen Gegenpol zu ihm schaffen. Dieser Gegenpol könnte ebenfalls Fäden produzieren, die wir auch brauchen werden. Mein Weib Cirnach ist eine hervorragende Weberin. Sie würde es übernehmen, alle Lebensfäden unserer Leute aufzuspannen und zu verweben, damit wir das Ende überleben können. Wenn sie beim Weben eines jeden Fadens fest an denjenigen denkt, dem er gewidmet ist, dann dürfte das ja eigentlich funktionieren, nicht wahr?“

Sytania begann zu überlegen. Dann sagte sie begeisterten Tons: „Oh, Telzan! Mein Kluger und aufmerksamer Telzan! Wie habe ich dich und deine Planspiele vermisst! Gut, deine Frau war eine sehr gute Vertretung, aber du, du bist nun einmal mein Bester! Es hat schon seinen Grund, warum ich gerade dich zu meinem Vertrauten und zum obersten meiner Vendar gemacht habe! Sieh her! Ich werde dir jetzt zeigen, wie ich über deinen Plan denke!“

Es gab einen schwarzen Blitz. Dann sah Telzan in einer Ecke der Höhle ein riesiges Spinnenweibchen, das sich auf den Rücken gelegt und bereitwillig ihre Spinnwarzen präsentiert hatte. „Ich gebe dir den Namen Argonia, meine Schöpfung!“, rief Sytania aus. „Du sollst uns zu Diensten sein und den Faden produzieren, den wir benötigen!“ Ich werde dich nicht enttäuschen, Meine Schöpferin., gab die Spinne telepathisch zurück.

Telzan wandte sich wieder seiner Herrin zu: „Ich finde der Name Argonia passt sehr gut zu ihr. Schließlich soll sie ja auch Tod und Schmerz über die bringen, die nicht dem Bösen dienen, also über die, die wir nicht retten werden!“ „Recht hast du, mein lieber Telzan.“, sagte Sytania. „Und nun hol deine Frau und besorge ihr alles, was sie benötigen wird, um die Arbeiten auszuführen. Auch all die Dinge, die sie zum Gewinnen des Fadens brauchen wird.“ „Ach.“, sagte Telzan. „Diese niedere Aufgabe kann doch eine der Novizinnen übernehmen. Cirnach wird eine aussuchen, die sie vielleicht auch mal am Webstuhl ablöst. Irgendwann muss ja auch schließlich sie mal schlafen.“ „Nun gut.“, sagte Sytania. „Dann sei es so. Erkläre deiner Frau unser Vorgehen.“ „Das muss ich nicht.“, sagte Telzan. „Den Plan haben wir schließlich gemeinsam gefasst. Wir wollten Euch damit überraschen, falls die Sache mit Tchey Neran-Jelquist in die Hose geht. Wir hatten das schon geahnt und …“ „Oh, Telzan!“, sagte Sytania stolz. „Du weißt genau, wann und wie du deine Herrin glücklich machen kannst! Geh jetzt und richte deinem holden Weibe aus, dass ich einverstanden bin!“ „Ja, Herrin!“, sagte Telzan und ging.

Shannon, Tolea und Scotty hatten Zirell tatsächlich erreichen können. Gemeinsam hatten sie der tindaranischen Kommandantin ihren Plan auseinandergesetzt. „Ich halte auch für möglich, dass das klappen könnte.“, sagte Zirell. „Aber wir müssen sehen, was die Vendar dazu sagen. Wenn Sianach und ihre Leute nicht einverstanden sein sollten, dann sollten wir das nicht über ihre Köpfe hinweg tun.“ „Oh, ich denke schon, dass sie einverstanden sein werden, Commander.“, sagte Scotty. „Das ist schließlich ihre einzige Versicherung gegen Sytania!“ „So denken wir.“, sagte Zirell. „Die Frage ist aber, ob Sianach und ihre Leute das genauso sehen. Ich werde sie am besten zu uns in die Leitung holen. Beendet bitte die Verbindung, damit IDUSA eine Konferenzschaltung aufbauen kann.“ „OK, Zirell.“, sagte Scotty und drückte die 88-Taste.

Shannon sah ihn missmutig an. „Das klang ja nich’ sehr positiv.“, flapste sie. „Abwarten.“, versuchte Tolea sie zu beschwichtigen. „Zirell muss das Einverständnis einholen. Oder würden Sie, gerade sie, es etwa gut finden, wenn einfach so jemand in Ihren Geist eindringen würde.“ „Ne!“, sagte Shannon mit Überzeugung. „Na also.“, pflichtete Scotty ihr und der Q bei.

Scottys Sprechgerät piepte und im Display war das Rufzeichen von Zirells Basis zu sehen. Daneben gab es einen symbolischen Vermerk, dass es sich um eine Konferenzschaltung handelte und darunter befand sich das Rufzeichen von Sianachs Garnison. „Hier Techniker Scott!“, meldete sich mein Ehemann. „Hi, Scotty.“, sagte Zirell. „Ich habe Sianach den Plan bereits erklärt und sie ist einverstanden. Wir warten nur noch auf Nidell. Dann machen wir es am besten gleich hier. Mit Tolea dürften wir ja Reichweite genug haben. Durch einen hier nicht weiter zu erwähnenden Umstand bin ich ja auch die einzige Tindaranerin, die über dimensionale Grenzen hinaus ihre Kräfte benutzen kann. Tolea, wir nehmen Nidell sozusagen in die Mitte und dann geht es los. Sie werden den verbalen Teil übernehmen und Nidell und ich sind Ihre mentalen Verstärker. OK?“ „OK.“, erklärte sich die Q einverstanden. „Es ist für uns alle sicher besser so, weil ich Ihnen dann nicht erst den Wortlaut des Banns übermitteln müsste, Zirell. Aber ich würde gern von Sianach selbst hören, dass sie einverstanden ist.“ „Ich bin einverstanden, Gebieterin Tolea!“, sagte die Vendar mit Überzeugtem Ton. „Ich habe auch bereits mit meinen Leuten geredet. Auch sie halten das für möglich und wollen es nicht nur tun, weil ich es ihnen befohlen habe, als ihre Anführerin. Nein, sie glauben daran, dass es möglich ist und freuen sich schon darauf!“

Nidell hatte die Kommandozentrale der Basis betreten. „Hier bin ich, Zirell.“, sagte sie. „Du wolltest mich sehen?“ „Ja, das wollte ich.“, sagte die tindaranische Kommandantin. „Ich hoffe, IDUSA hat dich über unser Vorhaben in Kenntnis gesetzt.“ „Das hat sie.“, sagte die medizinische Assistentin. „Aber ich frage mich, ob ich hier wirklich helfen kann. Meine mentalen Fähigkeiten sind sicher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn man sie mit den Deinen oder mit Toleas vergleicht.“ „Aber steter Tropfen höhlt auch den Stein, Nidell.“, entgegnete Zirell. „Vielleicht bist ja sogar du das Zünglein an der Waage. Immerhin müssen wir einige tausend Vendar mit dem Schutz versorgen und das schaffen Tolea und ich sicher nicht allein. So und jetzt konzentriere dich mit mir auf die geistige Prägung von Tolea, damit wir uns mit ihr zusammenschließen können und dann denken wir alle drei ganz intensiv an die Vendar auf New-Vendar-Prime!“ „Zu Befehl, Kommandantin!“, sagte Nidell förmlich und führte aus, was Zirell ihr gerade gesagt hatte.

Tolea spürte den Kontaktversuch der beiden Tindaranerinnen. „Es ist so weit.“, sagte sie. „OK, Sie haben Ihre Aufgabe, Tolea.“, sagte Scotty. „Aber was machen Shannon und ich in der Zwischenzeit?“ „Ihre Freundin könnte an Bord ihres Schiffes zurückkehren und es warten.“, schlug Tolea vor. „Schließlich werden wir es noch für Teil zwei unseres Plans benötigen und ich habe keine Lust, mitten im Weltraum liegen zu bleiben.“ Sie grinste bei ihrem letzten Satz. „Und Sie, Scotty, Sie sorgen mir dafür, dass diese Sprechverbindung nicht abreißt, was immer gleich auch passieren mag.“ „Sie machen mir Angst, Tolea.“, sagte Scotty. „Aber gut.“ Damit winkte er Shannon. „Ich gehe ja schon.“, sagte sie und zog ihr Sprechgerät, in das sie IDUSAs Rufzeichen eingab, um sich dann von ihr an Bord beamen zu lassen.

Tolea und Scotty waren allein. „Bitte sprechen Sie mich jetzt nicht an, Techniker Scott.“, bat die Mächtige. „Das werde ich nich’.“, sagte Scotty und richtete seinen Blick fest auf das Display des Sprechgerätes. „Ich hätte ja auch gar keine Zeit, jetzt mit Ihnen Smalltalk zu halten. Schließlich muss ich mich um dieses Baby hier kümmern.“ „Sehr gut.“, sagte Tolea und begann damit, sich gemeinsam mit Zirell und Nidell auf ihr Vorhaben zu konzentrieren.

Als die telepathische Verbindung zu den Vendar stabil war, dachte sie: Tshê, Vendar! Niemals mehr werdet ihr empfänglich für Sytanias Befehle sein. Sollte sie euch aufsuchen, oder euch geistig kontaktieren, dann seid ihr taub und blind gegen sie und auch jeder eurer Geister ist fest gegen sie verschlossen und auch jeder eurer weiteren Sinne ist gegen sie blockiert! Dieser Befehl gilt ab jetzt bis an das Ende aller Zeiten und nicht nur für euch, sondern auch für die, die nach euch kommen!

Augenblicklich gab es einen weißen Blitz und es ging eine Erschütterung durch die Basis und Scottys Haus, die einem Erdbeben glich. Nur blieb alles heil. Immer noch hatte Scotty das Display im Blick. Er wusste, dass so mancher Energieaufbau einer Sprechverbindung sehr zusetzen konnte. Das hatte ich ihm einmal erklärt. Er wusste aber nicht, was er im Notfall tun sollte. Sicher hätte er das Gerät auseinander schrauben können, aber vielleicht war das ja auch nicht nötig. Wo bist du nur, Darling, wenn man eine ausgebildete Kommunikationsoffizierin braucht?, dachte er.

Sianachs Stimme war das Erste, das Scotty hörte, als sich alles wieder beruhigt hatte. Kannst du mich hören, Scotty El Taria?!“, fragte die Vendar. „Ja, das kann ich.“, sagte Scotty mit viel Erleichterung. „Wie fühlst du dich?“ „Ich fühle mich stark!“, sagte die Vendar. „Ich fühle mich gut! Stark, gut und geschützt! Der Teil meiner Leute, der hier mit mir in meinem Haus ist, bestätigt das auch. Es scheint funktioniert zu haben.“ „Das kann ich nur bestätigen.“, sagte Zirell und auch Nidell nickte im Hintergrund. „Dann müsste das ja die Regierung auch spüren, wenn wir sie dazu auffordern, es zu überprüfen.“, sagte Scotty. „Ah!“, machte Zirell. Daher weht also der Wind. Na, ich wäre gern dabei, wenn ihr meine Regierung auf den Topf setzt.“ „Dann kommen Sie doch mit.“, sagte Scotty. „Oh nein.“, sagte Zirell. „Ich habe leider hier zu tun. Aber ich bin gern bereit, mir alles über eine Sprechverbindung anzusehen.“ „OK.“, sagte Scotty. „Das ließe sich garantiert einrichten.“ Dann beendete er die Verbindung und man begab sich gemeinsam zu Shannon an Bord von IDUSA. Auch Tolea begleitete sie. Sie wollte es sich absolut nicht entgehen lassen, die Gesichter der tindaranischen Regierung zu sehen.

Sedrin und ich waren erneut mit der Behandlung von Invictus beschäftigt gewesen. So hatten wir nicht bemerkt, dass sich heimlich still und leise jemand zu uns in den Stall geschlichen hatte, der unsere Gespräche jetzt hautnah mitbekam. Jemand, für den ihr Inhalt eigentlich noch gar nicht bestimmt war, der ihn jetzt aber doch hören würde. Da weder die Agentin, noch ich etwas an diesem Faktum ändern konnten, würden wir ihm wohl Rede und Antwort stehen müssen. Allerdings dachte ich mir schon, dass Sedrin mir wohl diese Aufgabe überlassen würde.

Sie hatte gerade Invictus‘ Horn wieder von dem übergroßen Fingerhut befreit. „Seine Augen sind schon viel wacher, Allrounder.“, beschrieb sie mir das Gesicht des Einhorns. „Das kann ich nur bestätigen, Madam.“, sagte ich. „Er scheint auch langsam unruhig zu werden. Die Spannung in seinem Körper nimmt auch wieder zu. Offenbar kommt er wirklich wieder zu Kräften.“ „Und das sicher im wahrsten Sinn des Wortes.“, ergänzte Sedrin. „Joran hat mir seinen Erfasser gelassen. Damit habe ich sein telepathisches Zentrum während der Behandlung gescannt. Das Interpretationsprogramm sagt, seine Zellen würden sich wieder langsam regenerieren.“

Ich beugte mich zu Invictus hinunter und streichelte ihn. „Hast du gehört?“, fragte ich leise und sehr ruhig. „Sie sagt, du wirst wieder gesund. Es kommt alles wieder in Ordnung.“

Der Hengst machte eine plötzliche Bewegung mit dem Kopf und Sedrin zog mich zurück. „Was ist los, Agent?“, fragte ich verwirrt und auch leicht alarmiert, denn ich hatte weder mit der Bewegung, noch mit ihrem daraus resultierenden Verhalten gerechnet. „Ich denke, dass er aufzustehen versucht.“, erklärte Sedrin und parkte mich an einem Pfeiler weit weg von Invictus zwischen. „Ich denke, Ihnen ist auch bekannt, dass Pferdeartige, wenn sie aufstehen wollen, sich den nötigen Schwung über den Hals holen.“ „Ja.“, sagte ich und klang dabei wohl auch etwas besorgt. „Aber ist das nicht noch zu früh?“ „Davon gehe ich auch aus.“, sagte Sedrin. „Deshalb werden Sie hierbleiben und ich hole die Männer!“ „Aye, Agent.“, sagte ich fast automatisiert. Jetzt war mir auch klar, warum sie mich aus der Schusslinie haben wollte. Wäre Invictus gestürzt und ich wäre noch immer zu nah bei ihm gewesen, hätten wir beide uns schwer verletzen können. Von einem Wesen, das ca. eine Tonne wog, zerquetscht zu werden, war sicher nicht angenehm. Ihre Aktion war also total vernünftig.

Sie hatte den Stall verlassen. Jetzt wähnte ich mich mit Invictus allein, der tatsächlich offenbar mit dem Versuch des Aufstehens beschäftigt war. Immer wieder trat er gegen die Strohballen und versuchte sie wegzustoßen. Da Samson und Tchiach sie aber durch ein ausgeklügeltes System von Verzahnung und Seilen miteinander verbunden hatten, gelang ihm das nicht. „Ruhig, Dicker.“, flüsterte ich ihm zu. „Das geht nicht. Dafür bist du noch viel zu schwach. Glaub es mir!“ Er schien mir das aber nicht abzunehmen, denn seine Versuche gingen ungehindert weiter. Ich teilte aber inzwischen die Befürchtungen des Agens. Invictus könnte sich verletzen, wenn er so weitermachte. Wie weit seine Kräfte wieder da waren, wusste ich ja nicht genau. Ich wusste ja nicht, ob seine Unverwundbarkeit wieder intakt war oder nicht. Sedrin hatte das jedenfalls nicht gesagt. Sie hatte nur gesagt, er sei auf dem Weg der Besserung, aber nicht mehr.

„Tante Betsy!“ Ein besorgtes Kinderstimmchen hatte mich zusammenfahren lassen. Ich drehte mich in die Richtung, aus der ich es vernommen hatte. Erkannt hatte ich längst, zu wem es gehört hatte. „James, was machst du denn hier?!“, fragte ich aufgeregt. „Es ist schon spät! Kinder deines Alters sollten längst im Bett liegen!“ „Ich weiß.“, sagte James. „Bitte schimpf nicht. Aber ich wollte doch nur wissen, wie es dem armen kranken Einhorn geht.“

Ich musste ihn irgendwie dazu bringen, dass er den Stall verließ. Die Dinge, die er gleich vielleicht zu sehen bekommen könnte, waren sicher nicht schön und ein Kind wie er sollte so etwas wie ein taumelndes und stürzendes Einhorn sicher nicht sehen. Das stand für mich fest.

„Hör mal, James.“, sagte ich. „Dein Vater macht sich bestimmt schon Sorgen um dich und ist ganz traurig, weil du nicht in deinem Bett bist und er gar nicht weiß, wo er nach dir suchen soll. Ich denke, es wird besser für dich sein, wenn du ganz schnell wieder unter deine warme Decke huschst.“ „Ich glaube nich’, dass mein Vater traurig sein wird.“, sagte James. „Die Tante Sedrin hat gesagt, sie wird die Männer holen, also auch meinen Vater. Der sieht ja dann, wo ich bin. Dann braucht er ja auch nich’ mehr traurig zu sein.“

Mir war in diesem Moment sonnenklar geworden, dass er mehr mitbekommen haben dürfte, als für ihn gut war. Aber das waren viele Dinge gewesen, die auch nur Sternenflottenoffiziere verstehen konnten. Für einen 6-Jährigen waren diese Informationen sicher viel zu viel. Ich musste herausbekommen, wieviel er wusste. Vielleicht konnte ich den Schaden ja noch begrenzen. Außerdem konnte ich ihn so prima ablenken.

„Wo ist der Heuballen, auf dem Sedrin und ich immer sitzen, wenn wir Invictus behandeln?“, fragte ich, die ich aufgrund der geänderten Situation nicht wirklich orientiert war. „Ich führe dich hin!“, sagte James stolz und nahm mich bei der Hand. Dann drehten wir uns nach rechts und gingen ein Stück geradeaus. Danach drehte er mich und wir setzten uns gemeinsam auf den Heuballen.

„Seit wann warst du hier?“, fragte ich. „Was hast du gehört? Wenn du Fragen hast, dann werden die Tante Sedrin und ich sie dir gern beantworten.“ „Fragen möchte ich dich tatsächlich was, Tante Betsy.“, sagte James. „Du erklärst so toll. Die Tante Sedrin und du, ihr habt darüber geredet, dass der Invictus die Valora nur betrogen hat, weil er Kinder haben wollte, die vorsichtig sind mit uns. Aber kann das die Valora nich’ auch? Wäre es nich’ gut, wenn sie dem Invictus dabei hilft? Ich meine, um Kinder zu bekommen braucht es doch immer eine Mummy und einen Daddy. Oder?“ „Richtig!“, lobte ich. „Das hast du sehr gut erkannt. Du bist sehr intelligent für dein Alter. Gibt es vielleicht noch eine Frage, die ich dir beantworten könnte?“ „Ja, die gibt es.“, sagte James. „Die Tante Sedrin hat was von den Gänsianern gesagt und davon, dass die Valora sie reingelegt hat. Was meinte sie damit?“

Hier muss ich euch vielleicht was erklären, liebe Leserinnen und Leser. Das englische Wort für Genesianer ist Genesians. Da das für einen 6-Jährigen vielleicht sehr schwer auszusprechen ist, insbesondere dann, wenn er gar nicht weiß, worum es eigentlich geht, könnte es sein, dass er Geesians sagt. Gees ist aber das englische Wort für Gänse. So kommt es in der Übersetzung zu Gänsianer.

„OK.“, sagte ich und begann erneut zu überlegen. „Du weißt ja, dass sich die Biene auf die Blume setzt, um …“ „Ääää, Tante Betsy?“, fragte James dazwischen. „Und was machen die Bienen, wenn die Blumen ihre Tage haben?“ „OK!“, sagte ich anerkennend. Offenbar war er nicht nur sehr intelligent, sondern auch schon recht aufgeklärt für sein Alter. Ich konnte also ruhig einen Gang höher schalten, was das Niveau der Aufklärung anging. Aber auch nur einen. Ich musste nach wie vor sehr vorsichtig sein. Um ihn nicht zu traumatisieren, würde ich die für ein Kind in seinem Alter doch sehr verstörenden Details der Sexualität weglassen müssen. Aber es ging ja in der Hauptsache doch eher um deren Konsequenzen. „Also.“, sagte ich. „Du hast ja schon richtig erkannt, dass es eine Mummy und einen Daddy braucht, damit Kinder entstehen können. Die Genesianer glauben aber, dass eine Mummy zu werden eine Schande ist, die ihnen von den Daddys auferlegt wird. Sie glauben, dass durch die Daddys alles außer Kontrolle geraten ist. Die Valora hat ihnen gesagt, dass sie die Daddys nicht mehr brauchen, wenn sie als ihre Göttin angenommen wird. Aber das war die Idee der bösen Sytania, die wollte, dass die Genesianer von ihr und der Valora abhängig werden, damit sie mit ihnen spielen kann. Für die Genesianer ist das aber ganz schlimm, wenn sie das merken. Sie sind dann ganz traurig und wütend, weil sie ganz stolz sind darauf, dass sie so selbstständig und ein Volk von großen Kämpferinnen sind.“ „Dann ist das ganz gemein von der bösen Prinzessin Sytania.“, weinte James. „Ich mag sie nich’! Olle blöde Prinzessin Sytania!“ „Ich verrate dir mal was.“, sagte ich konspirativ. „Wir von der Sternenflotte, wir mögen sie auch nicht, weil sie so fies und gemein ist.“ „Aber du hast gesagt.“, sagte James. „Dass die Gänsianer es nich’ mögen, Mummys zu werden. Warum nich’? Mögen die etwa keine Kinder?“ „Das ist es nicht.“, sagte ich. Aber was es ist, das zeige ich dir morgen. Vertrau mir. Das wird sicher ein Spaß!“ „OK.“, sagte James und lächelte mich vertrauensvoll an. Meine Einlassung zum Thema Sytania musste auch seine Tränen wieder getrocknet haben.

 

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