Sāmoš hielt sein Kojn-Kojn direkt vor das des Anführers an und verneigte sich tief vor seinen Herren. „Ich bringe schlechte Kunde, mein Gebieter.”, begann er, nachdem der Anführer von Kejtar einen Bericht verlangte, „Vor der Stadt haben oskonische Soldaten ein sehr großes Lager aufgeschlagen. Auch in der Stadt wimmelt es nur so von Soldaten.” „Wird Lasundo von ihnen belagert?”, wollte Dilāras Vater wissen, „Oder wurde sie bereits von ihnen erobert?” „Nein, mein Gebieter.”, antwortete Sāmoš, „Die Stadt wurde nicht erobert und sie wird auch nicht belagert. Aber im Lager der Soldaten befinden sich jede Menge Gefangene.” Fragend sah der Anführer Kejtar an. „Ich selbst war sogar in die Stadt geritten, um mir ein besseres Bild von der aktuellen Lage zu machen, mein Gebieter.”, antwortete dieser auf die stumme Frage Mandūris, „Die Stimmung in der Stadt scheint nicht anders zu sein als sonst.” „Habt Ihr auch mit den Leuten in Lasundo gesprochen?”, wollte Kelūru wissen. „Ja, mein Gebieter.”, berichtete Sāmoš, „Sie sagen, dass der Krieg bald vorbei wäre. Draußen vor den Stadtmauern befinden sich in den Heerlagern fast fünftausend Gefangene. Einer der Soldaten sagte mir, dass die Feinde bei der Schlacht um Darūnos vernichtend geschlagen wurden. Weiter berichteten mir die Soldaten, dass Prinz Paludīn sich mit seinen Truppen nach Kerīnošolva zurückgezogen hat, um dort seine Truppen neu zusammen ziehen zu können.” Kelūru nickte. „Ich verstehe.”, sagte er mit ernster Miene, „Das Gebiet um Kerīnošolva herum ist offenes Gelände. Auf der einen Seite befinden sich die Wälder von Manungo und auf der anderen Seite wird das Gebiet von dem großen Fluss Tavrōšari abgegrenzt. Wenn Prinz Paludīn dort seine Truppen neu formiert, kommt es zur der Entscheidungsschlacht gegen die Truppen seines Bruders Prinz Gēzul.” „Ja, mein Gebieter.”, antwortete Kejtar Sāmoš nachdenklich, „Das bedeutet, dass der Bürgerkrieg hier im Oskonischen Kaiserreich bald vorbei sein wird.” „Das ist das eine.”, erwiderte der Anführer der Xendavas ebenso nachdenklich, „Die Frage ist nur, welche Konsequenzen es für uns haben wird. Egal, wer von beiden den Thron besteigen wird. Der alte König hielt sich an die Autonomie-Verträge, die er mit uns damals geschlossen hatte. Aber was seine beiden Söhne im Sinn haben, wenn sie die Macht ergreifen, wissen wir leider nicht. Das macht mir Sorgen.” Kejtar nickte. „Ja, mein Gebieter.”, antwortete Sāmoš, „Euer gesamtes Volk teilt die Sorge mit Euch.”
Inzwischen überlegten Tabrun und Simdu zusammen, wann sie ihre Heimreise antreten sollten. „Vielleicht sollten wir das davon abhängig machen, wann ein Schiff in unsere Richtung ablegt, dass uns mitnimmt.”, schlug Simdu vor, „Deshalb sollten wir als erstes Mal in die Stadt gehen und uns dort mal erkundigen, wann wir mit welchen Schiff unsere Reise fortsetzen können.” Tabrun nickte. „Ja, ich denke das wäre wohl am besten.”, meinte er, „Frage doch mal Pelto, ob er auch mit der dalganischen Zunge vertraut ist.” „Ja, edler Herr.”, antwortete Pelto Simdu, nachdem er ihm die Frage auf Aldoranisch gestellt hatte, „Ich bin mit ihr genauso vertraut wie mit meiner eigenen.” Arankas Mann übersetzte die Antwort des Alten ins Ulanische.
„Warum fragen wir ihn denn noch.”, meinte er grinsend zu Simdu, „Anscheinend ist er wohl fast mit allen Zungen vertraut.” „Wir können froh sein, dass wir ihn seiner Zeit gefunden haben.”, erwiderte Jakodos, „Wenn wir ihn nicht mitgenommen hätten, hätten wir wesentlich größere Verständigungsprobleme.” Gūrads ältester Sohn pflichtete Simdu bei. Dann wechselte er das Thema. „Ich denke, wir sollten uns so schnell wie möglich in die Stadt begeben, um nach einer geeigneten Passage für uns suchen.”, schlug Tabrun vor, „Je früher wir das geklärt haben, umso eher können wir unsere Heimreise fortsetzen.” „Aber bevor wir in die Stadt reiten, sollten wir vorher mit Kelūru sprechen.”, meinte Simdu nachdenklich, „Denn ich gehe mal davon aus, dass sich die Xendavas von uns verabschieden wollen und anschließend sofort weiterreisen werden, sobald wir zu unserer Heimreise aufbrechen.” „Das kann Pelto für uns erledigen.”, meinte Tabrun trocken, „Lass ihn mit dem Anführer sprechen. Danach sehen wir weiter.”
Es dauerte nicht lange, bis der Aldoraner in Begleitung von Mandūri zusammen mit Temka, Sāmoš und Mūnax zurückkam. „Ich habe gehört, dass ihr in die Stadt reiten wollt, um nach einen Schiff zu suchen, das euch mitnehmen soll.”, sagte Kelūru. Die beiden Ulani bejahten unisono. „Gut.”, antwortete der Anführer der Xendavas, „Dann werde ich euch mit zwei meiner Männer begleiten. Ich nehme an, dass ihr das so schnell wie möglich klären wollt.” Wieder bejahten die beiden Ulani. „Gut, dann lasst uns sofort auf den Weg machen.”, sagte Kelūru, nachdem er seiner Frau Temka Dajhān die Verantwortung über die zurückbleibenden Xendavas übertrug.
Lasundo war eine mittelgroße Stadt, in der zurzeit Hochbetrieb herrschte. Viele Belluraner waren in den Straßen unterwegs. Die verschiedensten Gerüche stiegen aus den offenen Fenstern und Türen der Häuser am Straßenrand den Neuankömmlingen in die Nasen. Zahlreiche Händler boten lautstark ihre Waren zum Verkauf an. Es dauerte nicht lange, bis sie den Markplatz von Lasundo erreichten. Dort erkundigte sich Kejtar bei einem oskonischen Händler, wie sie am schnellsten zum Hafen kämen. Sofort erklärte ihm der Mann mit einem dunklen Haarkranz den Weg. Nachdem Sāmoš seinem Herrn die Erklärung mitgeteilt hatte, ritten sie gemeinsam in jene Richtung, die der Händler ihnen genannt hatte.
Vorsichtig bahnten sich Tabrun, Simdu, Pelto und die drei Xendavas auf ihren Kojn-Kojns einen Weg durch die vollen Straßen der Kleinstadt. Nach kurzer Zeit erreichten sie den Hafen von Lasundo, wo mehrere Schiffe und Boote angetäut waren. „Die Frage ist jetzt, welches von den Schiffen fährt in unsere Richtung.”, meinte Tabrun nachdenklich. „Am besten fragen wir in der Hafenmeisterei nach. Dort finden wir am ehesten jemand, der uns das sagen kann.” „Ich werde Pelto hinschicken.”, antwortete Arankas Mann, „Der wird schon jemanden finden, mit dem wir verhandeln können.” Kurz darauf stieg der Aldoraner von seinem Reittier und näherte sich mit schnellen Schritten einem kleinen Gebäude. Direkt an der offenen Tür blieb er stehen. Pelto klopfte an den Türrahmen, bevor er das Häuschen betrat.
Nach wenigen Augenblicken verließ der Aldoraner wieder das kleine Haus. Ein hagerer älterer Mann folgte ihm, der eine Uniform und eine Kapitänsmütze trug. Direkt vor Tabrun und Simdu blieb Pelto mit seinem Begleiter stehen und machte eine tiefe Verbeugung.
„Ich habe jemanden gefunden, mit dem Ihr verhandeln könnt, edle Herren.”, sagte Gōlad, „Ihm gehört das Schiff dort drüben.” Der Aldoraner zeigte auf ein größeres Segelschiff, das nicht als zu weit von ihnen entfernt angetäut war. „Euer Freund hat mir gesagt, dass Ihr für Eure Reise ein Schiff braucht.”, sagte der Fremde mit einer rauen Stimme. Jakodos ließ sich die Überraschung nicht anmerken, dass der Unbekannte fast akzentfreies Aldoranisch sprach. „Eurer Kleidung nach zu urteilen müsst Ihr der Kapitän sein.”, meinte Simdu und musterte den Mann. Dieser bejahte sofort. „Wäret Ihr bereit, uns an Bord Eures Schiffes mitzunehmen?”, wollte Simdu wissen, „Wir werden gut bezahlen.” „Es kommt darauf an, wohin Ihr wollt.”, antwortete der Kapitän und zupfte dabei an seinen Bart. „Fahrt Ihr vielleicht nach Melīnos?”, fragte Pelto. Der Gefragte verneinte. Stattdessen zeigte er auf ein größeres Schiff, dass etwas weiter entfernt an mehreren Pollern angetäut war. „Die vorne ist die Smullit.”, sagte er, „So viel ich gehört habe, soll sie nach Melīnos fahren. Am besten fragt ihr Kapitän Maraši, ob ihr auf seinem Schiff mitfahren könnt. Er steht dort drüben.”
Nachdem die beiden Ulani und der Aldoraner dem Mann für seine Auskunft gedankt hatten, gingen sie direkt zu dem Kapitän der Smullit hin. Der Mann runzelte anfangs auf die Frage nach einer Passage für drei Männer die Stirn. Da seine Antwort nur zögerlich kam, rechneten Tabrun und Simdu bereits, dass Maraši ablehnen würde, doch dieser war einverstanden. Für einen guten Preis war er gern bereit die drei Männer mitsamt ihren Reittieren mitzunehmen. „Sobald die Smullit neu beladen ist, läuft sie aus.”, fügte der Kapitän mit ernster Miene hinzu, „Seid also pünktlich an Bord, denn ich werde auf niemanden warten.” „Wir werden rechtzeitig an Bord sein.”, antwortete Simdu, nachdem Pelto übersetzt hatte. Maraši sah den drei Männern nach, die inzwischen zu den Xendavas, die bei den Reittieren geblieben waren, zurückkehrten.
Als die drei vor ihnen stehen blieben, erhob Mandūri seine Stimme. „Anhand eurer Mienen sehe ich, dass die Stunde des Abschieds gekommen ist, edle Freunde.”, sagte Kelūru und sah die drei Männer an. Fragend sahen Simdu und Tabrun den Aldoraner an, der sofort übersetzte. „Ja, edler Herr der Xendavas.”, übersetzte Pelto Simdus Wort ins Oskonische, „Das Schiff wird schon neu beladen und sobald es beladen ist, legt es ab.” Kelūru warf einen kurzen Blick zur Smullit rüber. Als er sah, wie die Hafenarbeiter die letzten großen Kisten an Bord brachten, nickte er. „Wohlan.”, meinte er, „Dann wird es auch für euch Zeit, euer Gepäck an Bord zu bringen.” Die drei Xendavas stiegen von ihren Reittieren ab, während dessen Tabrun, Simdu und Pelto ihre Reittiere mitsamt ihrer Ausrüstung an Bord brachten, nachdem sie die Passage bezahlt hatten. Wenige Augenblicke später kehrten die beiden Ulani und der Aldoraner zu den wartenden Xendavas zurück. Einen kurzen Moment lang sahen sich die Männer an. „Wir müssen uns nun leider von unseren Waffenbrüdern Abschied nehmen, denn es wird nicht mehr lange dauern, bis die Smullit ausläuft.”, sagte Tabrun zu Simdu, der es sofort ins Aldoranische übersetzte, „Aber, wir wollen nicht gehen, bevor wir uns bei unseren neuen Freunden für ihre Gastfreundschaft und auch für eure Hilfe bei der Suche nach den Larunos bedankt zu haben. Mögen die Götter euch für alle Zeiten ihre schützenden Hände über euch halten und euch beschützen.” Nachdem Simdu mit seiner Übersetzung geendete, begann Pelto Tabruns Worte zu übersetzen. Schweigend und mit ausdruckslosen Mienen hörten die Xendavas zu. Nachdem der Aldoraner geendet hatte, nickte Mandūri. „Wir wünschen euch eine gute Heimreise.”, antwortete der Anführer der Xendavas und sah besonders Tabrun verständnisvoll an, als dieser fortfuhr, „Besonders Ihr, edler Tabrun Nandor, habt eine sehr schwere Last zu tragen, die Ihr mit in die Heimat mitnehmen werdet. Richtet Eurem Vater aus, dass das Volk der Xendavas mit ihm fühlt.” Währenddessen Pelto Kelūrus Worte übersetzte, trat der Anführer an sein Reittier und begann etwas aus eine der Satteltaschen herauszuholen. Wenig später trat er vor den beiden Ulani und den Aldoraner hin und reichte den drei Männern jeweils ein kleines Messer, die in Lederscheiden steckten. Die Griffe dieser Messer waren mit Schnitzereien reich verziert. „Nehmt diese Messer als Abschiedsgeschenke von uns.”, sagte er feierlich, nachdem er jeden einzelnen umarmte, „Stets sollen sie euch an das stolze Volk der Xendavas und an unsere Waffenbruderschaft erinnern. Die Klingen wurden von unseren besten Schmieden angefertigt und sind sehr scharf. Ich bin mir sicher, dass diese Messer für euch immer eine gute Hilfe sein werden, wenn ihr sie braucht.” Tabrun, Simdu und Pelto steckten die kleinen Abschiedspräsente von Mandūri ein und dankten. Die drei Xendavas sahen den beiden Ulani und dem Aldoraner nach, als sie an Bord gingen. Nachdem das Schiff abgelegt hatte, kehrten die drei Xendavas zu den anderen zurück.
Während der Schiffsfahrt zog sich Tabrun immer mehr in sich zurück. Er musste die ganze Zeit über an Mandrak denken, den er sehr vermisste. Sobald er allein war, fühlte er besonders stark den Verlust seines Bruders und die Trauer um ihn, drohte ihn nahezu zu erdrücken. Immer wieder weinte er um ihn. Besonders schlimm waren die Gewissensbisse, die Tabrun hatte, weil er immer noch das Gefühl hatte, Mandrak im Stich gelassen zu haben. Sowohl Simdu Jakodos als auch Pelto Gōlad versuchten immer wieder mit Tabrun zu reden. Obwohl es den beiden Männern nicht gelang, Tabrun davon zu überzeugen, dass er nichts falsch gemacht hatte, blieb das schlechte Gewissen.
„Niemals hätte ich ihn mitnehmen dürfen.”, sagte er eines Tages erneut zu den beiden, „Ich hätte damals hart durchgreifen müssen, um ihn davon abzuhalten, mit mir zu kommen. Aber er hatte so einen Dickschädel und er wäre mir so oder so gefolgt. Egal, was ich ihm auch gesagt hätte, er wäre mir gefolgt. Er war doch noch so jung. Viel zu jung um zu sterben.” „Aber er hat es für dich und für euren Vater getan.”, antwortete Jakodos mitfühlend, „Du solltest nicht nur um ihn trauern, sondern auch sehr stolz auf Mandrak sein. Er war zwar dein jüngster Bruder, aber er hatte nicht weniger Mut und Entschlossenheit als du an den Tag gelegt, als er dich auf diese Reise begleitete, um die Farm zu retten.” Ernst sah er den Schwarzhaarigen an, der seinen Blick mit niedergeschlagener Miene erwiderte. Dann seufzte Tabrun wieder. „Du hast ja so gesehen Recht.”, meinte der Schwarzhaarige, „Aber er hätte nicht sterben müssen.” Arankas Mann ließ laut die Luft aus seinen Lungen entweichen. „Siehe es mal so.”, schlug der Blonde seinem ehemaligen Rivalen vor, „Wenn er nicht mitgekommen wäre, hätte ihm auch daheim etwas zustoßen können, was ihm das Leben gekostet hätte. Keiner von uns weiß, wann Zātul und alle anderen Götter einen von uns zu sich ins Najangu holen.”
„Und dann muss ich noch etwas mal in aller Deutlichkeit hinzufügen, Tabrun.”, fuhr Simdu aufrichtig mit Nachdruck in seiner Stimme fort, „Seit dem wir gemeinsam unterwegs sind, habe ich deinen Bruder kennen gelernt und dich noch viel besser. Um ganz ehrlich zu sein, habe ich euch beide sehr zu schätzen gelernt. Vorher habe ich noch nie jemanden gekannt, der bereit war, alles auf sich zu nehmen, um das zu retten, was euer Vater mit seinen eigenen Händen im Laufe seines Lebens aufgebaut hat.” Simdu sah Tabrun sehr ernst an, als er noch etwas hinzufügte. „Inzwischen habe ich angefangen, Mandrak und dich als meine Freunde zu sehen.”, gestand der blonde Ulani, „Auch, wenn wir beiden unsere Differenzen hatten, hoffe ich, dass du mich auch als Freund siehst.” Tabrun blickte den Blonden mit nachdenklicher Miene an. „Auch ich muss dir mal etwas in aller Ehrlichkeit sagen.”, begann Gūrads ältester Sohn mit fester Stimme sah dabei seinen Landsmann an, „Mir geht es mittlerweile genauso. Auch ich habe angefangen, dich als einen Freund zu sehen.” Jakodos begann zu lächeln und reichte ihm die Hand. „Dann sind wir jetzt Freunde?”, fragte dieser. Tabrun schlug ein und wenig später umarmten sich die bei Ulani. „Ja, Simdu.”, erwiderte der Schwarzhaarige, „Wir sind Freunde. Genauso, wie sich Aranka es von uns beiden gewünscht hat.”
Während der restlichen Schiffsfahrt nach Melīnos unterhielten sich die drei Männer über ihre gemeinsamen Erlebnisse, die sie während ihrer gemeinsamen Reise gemacht hatten. Nach einer mehrwöchigen Reise legte die Smullit im Hafen der aldoranischen Hauptstadt Melīnos an. Nachdem die drei das Schiff verlassen hatten, wurde es auch Zeit, um Pelto für seine treuen Dienste zu bezahlen. Der Tegoš war etwas überrascht, als Simdu ihn wesentlich höher bezahlte, als sie ursprünglich mit einander vereinbart hatten.
„Was werdet Ihr nun machen, wenn Ihr wieder zu Hause seid?”, wollte Jakodos von dem Aldoraner wissen, der sich als ein treuer Freund und Helfer erwiesen hatte. Pelto begann zu grinsen, als er etwas aus einer sehr großen Satteltasche herausholte und es den beiden Ulani zeigte. Es waren mehrere Bücher, in den Pelto seine Erlebnisse, die er während dieser Reise gemacht hatte, niedergeschrieben hatte. „Wollt Ihr daraus ein Buch machen?”, fragte Simdu interessiert. „Ja, edler Herr.”, antwortete Pelto, „Ich habe schon an so vielen Reisen und Expeditionen teilgenommen und dabei meine ganzen Erlebnisse niedergeschrieben. Diese Bücher enthalten recht viele nützliche Informationen, von denen ich der Meinung bin, dass sie jeder erfahren soll, der daran Interesse hat.” „Das dürften demzufolge mehrere Bücher sein, oder?”, wollte Simdu wissen. Pelto bejahte grinsend. „Wobei ich sagen muss, dass die anderen schon längst in der Quelle des Wissens hier im Zentrum von Melīnos zu finden sind.” Jakodos pfiff anerkennend durch die Zähne. „Das hätte ich nicht gedacht.”, gestand er beeindruckt, „Sind sie auch schon in andere Sprachen übersetzt worden?” Pelto schüttelte bedauernd mit dem Kopf. „Ich verstehe.”, meinte der Blonde, als ihn eine Idee in den Sinn kam. „Außerdem habe ich auch noch das hier.”, fuhr der Aldoraner schmunzelnd fort und klopfte dabei mit der flachen Hand zufrieden auf eine der kleinen Säcke, die Saatgut enthielten, „Ich werde daheim versuchen, Lankos und Larunos anzubauen. Wenn ich irgendwann einmal nicht mehr dazu in der Lage sein sollte, an weiteren Expeditionen teilzunehmen. Dann habe ich wenigsten noch eine andere Möglichkeit, Geld zu verdienen.” Simdu begann zu grinsen. „Ich sehe, Ihr seid ein weiser und vorausschauender Mann, edler Tegoš.” Pelto machte eine tiefe Verbeugung vor seinen ehemaligen Arbeitsherren. „Ihr seid zu gütig, edler Herr.”, sagte er aufrichtig, „Auch Euch haben die Götter mit Weisheit gesegnet. Mögen sie auch weiterhin ihre schützenden Hände über Euch halten und Euch stets zur Seite stehen.” Zum Abschied gaben sie die drei Männer noch einmal aneinander die Hände. Tabrun und Simdu sahen dabei zu, wie der grauhaarige Aldoraner auf sein Kojn-Kojn stieg, seinem Reittier die Sporen gab und nach wenigen Augenblicken in eine der Seitenstraßen verschwand. Anschließend machten sich die beiden Ulani auf der Suche nach einen anderen Schiff, dass sie nach Merānos bringen sollte. Es verging ein halber Tag, bis sie die Nungwāna fanden, die mit der nächsten Flut bereits in die gewünschte Richtung auslaufen sollte.
Nach mehreren Wochen erreichte die Nungwāna die ulanische Metropole Merānos, wo Tabrun und Simdu gemeinsam von Bord gingen. Zusammen ritten die beiden Männer auf ihren Kojn-Kojns durch die Stadt, bis sie das Haus erreichten, in dem Simdu mit Aranka lebte. Der Blonde lud Tabrun ein, noch einige Tage bei ihm und seiner Frau in Merānos zu bleiben, damit der Schwarzhaarige sich noch etwas für den restlichen Teil der Heimreise ausruhen konnte. Dankbar nahm Tabrun das Angebot an.
Bevor die beiden Männer das Haus betraten, brachten sie zuerst ihre Kojn-Kojns im Stall unter, wo immer noch jene beiden Kuš-Kuš standen, auf denen Tabrun zusammen mit Mandrak nach Merānos geritten waren. Sofort überfiel Tabrun tiefe Trauer, als er die beiden Tiere sah. Simdu, der sofort die Miene des Schwarzhaarigen gesehen hatte, legte diesem tröstend seine Hand auf die Schulter. „Wenn du willst, werde ich dich in den nächsten Tagen nach Hause begleiten und dir beistehen, wenn du mit deiner Familie über Mandraks Tod sprichst.”, bot er Tabrun an. Gūrads ältester Sohn sah Arankas Mann an. „Ich danke dir für dein Angebot, aber du wirst höchstwahrscheinlich selbst genügend zu tun haben, nachdem du solange von zu Hause fort warst.”, antwortete Tabrun, als die beiden zusammen das Haus betraten, „Ich werde das schon irgendwie schaffen. Aber über einen Besuch von euch beiden bei mir zu Hause, würde ich mich sehr freuen.”
Aranka verließ sofort ihr Arbeitszimmer, als sie hörte, wie jemand das Haus betrat. Als sie Simdu erblickte, kam sie ihm freudestrahlend entgegen und die beiden umarmten sich zur Begrüßung. Erst nachdem sich die beiden wieder voneinander gelöst hatten, sah sie Tabrun. Sofort begrüßte Aranka Gūrads ältesten Sohn ebenfalls sehr herzlich. Doch nach wenigen Augenblicken hielt sie inne und sah dabei Simdu und Tabrun nacheinander stirnrunzelnd an. Ihr fiel auf, dass Mandrak nicht bei ihnen war. „Als du damals zu uns kamst, warst du doch nicht alleine hergekommen, Tabrun.”, meinte sie ernst, „Wo ist denn Mandrak, dein Bruder?” An den Blicken der beiden Männer erkannte sie sofort, dass etwas nicht stimmte und sie ahnte bereits, dass etwas sehr Entsetzliches auf der Reise vorgefallen sein musste. Während Tabrun seinen Blick von ihr abwandte und mit seinen Tränen zu kämpfen hatte, sah die junge Frau ihren Mann an. Simdu erkannte in ihrem Blick, was sie dachte.
„Mandrak ist tot.”, erklärte er mit belegter Stimme, während Tabrun in ein Taschentuch schnäuzte, „Im Brondus-Damrajd stürzte er während eines Kampfes mit einem Xulari in eine tiefe Schlucht, durch den ein breiter Fluss führte. Die Strömung riss ihn fort, bevor wir ihn da rausholen konnten.” „Das ist ja entsetzlich.”, sagte sie leise und trat auf Tabrun zu, den sie nur traurig ansah, „Oh Tabrun. Das tut mir so unsagbar Leid. Das muss grauenhaft für dich sein.” Während sie das sagte, nahm sie den Schwarzhaarigen in ihre Arme. Tabrun schluchzte mehrmals. Sofort drückte sie den Trauernden fester an sich. Nach wenigen Augenblicken ließ sie den Mann wieder los und sah ihn an. „Aber wenn du ohne Mandrak nach Hause kommst, will deine Familie doch bestimmt wissen, wo er ist und was mit ihm geschehen ist.”, meinte sie betroffen und sah die beiden Männer nacheinander fragend an, „Wie willst du das machen, Tabrun?” „Ich weiß es nicht.”, gestand er schniefend, „Aber ich werde mir unterwegs etwas einfallen lassen, damit ich das meinen Eltern beibringen kann. Der Weg nach Hause ist dafür noch lang genug.” „Ich habe Tabrun bereits angeboten, ihn nach Hause zu begleiten und bei ihm zu bleiben, bis er die Sache überstanden hat.”, fügte Simdu hinzu und legte dabei tröstend seine Hand auf Tabruns Schulter, „Aber er will unbedingt alleine nach Hause und das regeln.” Entsetzt sah Aranka Tabrun an. „Ist das wahr?”, wollte sie wissen und sah den Schwarzhaarigen sorgenvoll an, „Du willst das allen Ernstes allein durchstehen?” Tabrun nickte wortlos. „Aber ich finde, dass du erst mal für ein paar Tage hierbleibst und dich von der strapaziösen Reise erholst, bevor du nach Hause zurückkehrst.”, entschied Aranka mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, „Solange du hier bist, kannst du dir noch mal das Angebot von Simdu durch den Kopf gehen lassen.” „Wir werden dich auf gar keinen Fall im Stich lassen.”, fügte sie mit sehr ernster Miene hinzu und sah dabei kurz ihren Mann an, der wortlos nickte.
Nach drei Tagen verließ Tabrun seine Freunde in Merānos folgte wochenlang dem Mullumšari. Die ganze Zeit über war es sehr sonnig und der Himmel war wolkenlos, aber bei weitem nicht so heiß, wie zu Beginn der Reise. Nach dem er das letzte Dorf hinter sich gelassen hatte, zog er mit seinen Tieren durch einen dichten Wald, durch den er auch zusammen mit Mandrak hergekommen war. In regelmäßigen Abständen machte er Rast, damit sich seine Reittiere ein wenig ausruhen konnten. An den Seen und kleinen Bächen, an denen er vorbeikam, tränkte er seine Tiere und ließ sie ausgiebig grasen, währenddessen er am Wasser angelte. Er war froh, dass die beiden Kuš-Kuš von Aranka während seiner und Mandraks Abwesenheit gut versorgt worden waren. Gleichzeitig machte ihn auch dieser Anblick traurig, weil ihn die Tiere daran erinnerten, dass er die Reise mit Mandrak zusammen begonnen hatte und nun alleine wieder nach Hause zurückkehren musste. Er war über den Verlust seines Bruders sehr niedergeschlagen und dieses Gefühl verstärkte sich noch erheblich, wenn er daran dachte, dass er seiner Familie den Tod Mandraks irgendwie erklären musste. Tabrun wusste, dass sein Vater ihn dafür verantwortlich machen würde, sobald er wusste, was mit Mandrak geschehen war. Mandrak war dein jüngster Bruder!, hörte er in sich bereits die zornige Stimme seines Vaters, Du warst für ihn verantwortlich und hättest ihn niemals auf deiner Reise mitnehmen dürfen! Angst stieg in Tabrun auf. Am Liebsten würde er gar nicht nach Hause kommen, aber er musste heimkehren. Tabrun wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Wahrheit ans Tageslicht kam. Währenddessen er seinem Zuhause immer näher kam, verstärkten sich diese Gefühle und auch seine Angst. Verzweifelt flehte Tabrun innerlich die Götter um Hilfe, als er das erste Feld erblickte, das bereits zum elterlichen Hof gehörte.
Nachdem er mit seinen Reittieren angehalten war, ließ er langsam seinen Blick durch die Gegend schweifen. Die beiden Kojn-Kojns scharrten jeweils mit ihren Vorderläufen auf dem trockenen Boden und gaben Laut von sich. Der Boden war von der Hitze rissig geworden und die Pflanzen auf den Feldern waren vollkommen ausgetrocknet. Kraftlos ließen sie ihre Blätter hängen. Obwohl die Hitze nicht mehr so groß war und der Himmel mittlerweile vollkommen bewölkt war, war in den letzten Wochen und Monaten kein Regen gefallen. Bei dem Anblick wurde Tabrun sofort klar, dass es dieses Jahr eine Missernte gab. Er konnte auch niemanden hören oder sehen. Die Stille war erdrückend. Tabrun gab einen tiefen Seufzer von sich und trieb seine vier Reittiere wieder an, um den letzten Teil seines Weges zurückzulegen. Gemächlich setzten sich die schwer beladenen Tiere wieder in Bewegung.
Talāna trat gerade aus dem großen Stall, als Tabrun mit seinen vier Reittieren auf dem Hof direkt vor einer Scheune anhielt. Laut schepperte der Metalleimer auf den harten Steinboden, als sie ihren ältesten Bruder erkannte, der inzwischen einen Vollbart trug. „Bei allen Göttern!”, rief sie voller Freude und rannte so schnell sie konnte zu Tabrun hin und umarmte ihn, „Tabrun ist wieder da!” Im nächsten Augenblick traten auch die anderen Familienmitglieder aus den umliegenden Gebäuden, die ihren Freudenschrei gehört hatten. Als Darūña ihren ältesten Sohn in ihre Arme schloss, begann sie vor Erleichterung zu weinen. Immer wieder küsste sie ihn, wie es auch Talāna bei Tabrun machte. Doch als Gūrad mit langsamen Schritten auf die Veranda trat und dabei die Tür ins Schloss fallen ließ, wurde es schlagartig still auf dem Hof und alle sahen erwartungsvoll das Familienoberhaupt an. Seine Miene blieb ausdruckslos, als er die Treppe herabstieg und mit langsamen Schritten auf Tabrun zukam. Dicht vor dem Schwarzhaarigen blieb er stehen und sah ihn eine Zeit lang wortlos an.
„Du und Mandrak.”, sagte er, ohne ein Gefühl der Freude über Tabruns Rückkehr zu zeigen, „Ihr wart lange fort.” Vorwurfsvoll sah er Tabrun an, der sofort schluckte. In dem Blick seines Vaters erkannte er großen Zorn. „Wo wart ihr denn die ganze Zeit über gewesen?”, donnerte Gūrads zornige Stimme über den Hof, „Und wo zum Mūruk steckt Mandrak?” Wütend starrte er seinen ältesten Sohn an. Tabrun sah, wie sein Vater vor Wut am ganzen Körper zitterte. Deutlich war es dem alten Farmer anzusehen, wie viel Mühe es ihm kostete, sich zu beherrschen. „Wir sind zusammen in den Brondus-Damrajd gereist und haben dort nach den Larunos gesucht und Saatgut mitgebracht.”, antwortete Tabrun und deutete mit einer Hand auf die schwer beladenen Tiere. Alle blickten kurz zu den Reittieren, mit denen Tabrun heimgekehrt war. Als Gūrad sich wieder zu dem Schwarzhaarigen umwandte, verfinsterte sich sein Blick weiter. „Das heißt, das ihr beiden nicht auf mich gehört habt und doch das machtet, was ich euch untersagt habe.”, erwiderte der Vater mit bebender Stimme, „Ich hatte doch gesagt, dass ihr euch alle etwas Besseres einfallen solltet, um unsere Farm vor dem Ruin zu bewahren. Von Abhauen war nicht die Rede. Geschweige denn, euch in Gefahr zu bringen.” „Vater, wir wollten doch nur…”, begann Tabrun, als ihm bereits der Alte das Wort abschnitt. „Ihr wart bei Nacht und Nebel einfach abgehauen!”, brüllte Gūrad wütend, „Nachdem wir festgestellt haben, dass ihr zwei verschwunden wart, haben wir die ganze Gegend nach euch abgesucht. Kannst du dir vorstellen, wie sehr wir uns Sorgen um euch beiden gemacht haben?” Während der Vater seinen ältesten Sohn weiterhin vorwurfsvoll ansah, holte er mit zitternder Hand einen kleinen Zettel aus seiner Brusttasche. Er reichte ihn Tabrun, der ihn sofort durchlas. Er stammte von Mandrak. Die Nachricht, die sein jüngster Bruder für die restliche Familie hinterlassen hatte, war eine Entschuldigung für ihr gemeinsames Handeln. Tabrun blickte von dem Zettel auf. „Mandrak hatte euch wissen lassen, was wir vorhatten?”, fragte er fassungslos, „Wann hat er das denn geschrieben?” „Woher sollen wir das denn wissen?”, donnerte die Stimme des Alten über den Hof, „Das muss er wohl gemacht haben, bevor ihr zusammen fortging! Zumindest wusste er ganz genau, dass ihr beiden ungehorsam wart!” Gūrad ließ ein weiteres Mal seinen Blick über den Hof schweifen. „Und jetzt frage ich dich noch einmal.”, sagte der Vater noch einmal, „Wo zum Mūruk steckt Mandrak?”
„Bei Zātul und allen anderen Göttern! Rede doch endlich!”, flehte seine Mutter, „Wo ist er? Ist ihm etwas passiert?” Tabrun sah jeden einzelnen nacheinander an, bevor er antwortete. „Bitte, Tabrun.”, sagte Talāna, die bereits etwas Entsetzliches ahnte, „Sag uns, dass es ihm gut geht.” Deutlich sahen alle dem Heimkehrer an, dass es ihn sehr schwer fiel, ihre Frage nach Mandrak zu beantworten. „Mandrak wird nie mehr nach Hause kommen.”, gestand der Schwarzhaarige und sah alle dabei sehr ernst an. „Was soll das heißen?”, fragte Gūrad aufgebracht, „Wo steckt er?” Tabrun holte tief Luft, dann sagte er ihnen die Wahrheit. „Mandrak ist tot.”, antwortete er niedergeschlagen. Fassungslos sahen sich alle einander an. „Sag das noch einmal.”, sagte der Vater mit einer gefährlich ruhigen Stimme. „Sag, dass das nicht wahr ist.”, bat Darūña, die es nicht glauben konnte, was sie aus dem Munde ihres Sohnes hörte. „Doch, Mutter.”, antwortete Tabrun mit zitternder Stimme, „Es ist wahr.” Sofort brach Darūña mit einem Weinkrampf zusammen. Auch Gūrad begann zu Weinen, nachdem sie an Tabruns Blick erkannten, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Weinend gingen sie gemeinsam ins Haus.
Tabrun blieb draußen und sah seiner Familie nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Er weinte ebenfalls. Einer der Knechte trat zu ihm. „Soll ich mich um die Tiere kümmern, Herr?”, fragte er. Tabrun nickte. Sofort griff er nach den Zügeln der Tiere und führte sie vor dem Eingang einer großen Scheune. Dort hielt er sie an und begann mit den anderen Knechten und Feldjungen zusammen, die Säcke mit dem Saatgut abzuladen. Nachdem sie den Reittieren das Zaumzeug abgenommen hatten, führten die Knechte sie auf die Weide, wo sie sofort zur Tränke gingen.
Tabrun hatte inzwischen die Veranda betreten und sich auf eine Bank gesetzt. Deutlich konnte er seine Mutter und auch seine Geschwister weinen hören. Er fühlte sich elend. Tränen liefen seine Wangen hinab und er musste immer wieder in sein Taschentuch schnäuzen. Sobald er die Augen schloss, sah er Mandrak vor sich.
Tabrun wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte, als die Tür aufging und jemand mit schweren Schritten nach draußen trat. Der Schwarzhaarige sah auf und erblickte seinen Vater, der direkt vor ihm stehen geblieben war. Der alte Farmer schien um Jahrzehnte gealtert zu sein. „Vater, es tut mir…”, begann er mit Tränen erstickter Stimme, doch der Alte machte nur eine Handbewegung, mit der er seinem Sohn zum Schweigen brachte. Seufzend setzte er sich zu Tabrun auf die Bank. In seinen Händen hielt er ein Taschentuch, mit dem er sich immer wieder Tränen aus den Augen wischte. Eine Zeitlang saßen beide nebeneinander ohne ein Wort zu sagen.
„Wie konntest du nur.”, sagte Gūrad tonlos und schüttelte verständnislos mit dem Kopf, „Mandrak war doch noch so jung. Du hättest ihn niemals mitnehmen dürfen. Du bist doch der älteste von euch. Du hättest das wissen müssen.” „Ich weiß, Vater.”, antwortete Tabrun niedergeschlagen und schnäuzte ein weiteres Mal in sein Taschentuch. „Er war unser jüngster Sohn.”, fuhr der Alte schniefend fort, „Mandrak hatte noch sein ganzes Leben vor sich gehabt.” „Ich wollte ja auch die Reise alleine machen, aber Mandrak hatte schneller rausgekriegt, was ich vorhatte und bevor ich mich versah, stand er in voller Montur vor mir.”, antwortete Tabrun mit Tränen erstickter Stimme, „Ich wollte ihn ja gar nicht mitnehmen. Aber Mandrak wollte partout mit. Er war doch so stur und wollte nicht auf mich hören, als ich sagte, dass ich ihn nicht mitnehmen wollte. Er wäre mir auf jeden Fall gefolgt. Was hätte ich denn tun sollen, Vater?” Fragend sah Tabrun den alten Farmer an, der seinen Blick aber nicht erwiderte.
„Erzähl mir, was Mandrak zugestoßen ist.”, bat der Alte nach einer Weile des Schweigens, „Erzähl mir alles, Tabrun. Wenn ich ihn schon nicht wiedersehen kann, möchte ich zumindest wissen, wie er starb.” Der Schwarzhaarige, der bei dieser Bitte seines Vaters erschrocken zusammenzuckte, schluckte mehrmals. Dann begann er dem alten Farmer detailliert zu berichten, was sich im Brondus-Damrajd zugetragen hatte. Nachdem er geendet hatte, sah er seinen Vater an. Tabrun wusste nicht, was in ihm vorging. Wortlos sah er zu, wie sein Vater aufstand und sein Taschentuch in die Hosentasche steckte.
„Geh schlafen, Tabrun.”, befahl Gūrad, bevor er ins Haus ging, „Morgen wird wieder ein harter Tag werden.” Tabrun sah ihm nach, bis die Tür ins Schloss fiel. Sein Vater hatte sich nicht einmal zu ihm ungedreht und angesehen. Der Schwarzhaarige wusste nicht, ob er ihm den Tod seines jüngsten Bruders jemals verzeihen könnte. Tabrun hatte in diesem Augenblick das Gefühl, nicht nur Mandrak verloren zu haben, sondern auch seinen Vater. Ihm fröstelte bei diesen Gedanken. Mit dem Gefühl von sehr schwerer Schuld und tiefster Trauer ging er ebenfalls ins Haus.
Die folgenden Wochen waren für alle in der Familie sehr schwer. Es verging nicht ein Tag, an dem Tabrun und alle anderen nicht an Mandrak dachten, den sie schmerzlichst vermissten. Seit jenem Abend auf der Veranda sprach sein Vater kein einziges Wort mehr mit Tabrun, was ihn sehr belastete. Immer wieder suchte er verzweifelt das Gespräch mit dem alten Farmer, doch er sah ihn nur schweigend und vorwurfsvoll an. Auch seine Mutter hatte sich sehr von Tabrun zurückgezogen, was ihm ebenfalls sehr wehtat. Darūña sprach zwar mit Tabrun, aber es fehlte jegliche Wärme in ihren Worten. Nur Talāna sprach mit ihm, was ihm gut tat. Trotzdem begann er sich selbst fremd in der Familie zu fühlen.
Eines Tages versuchte Tabrun erneut mit seinem Vater zu reden, doch dieser ignorierte ihn kalt. Ohne auf ihn achten, fütterte er die Tiere weiter. „Vater!”, brüllte er verzweifelt den alten Farmer an und hielt ihn mit seinen kräftigen Händen an seinen Oberarmen fest, „Du kannst mich doch nicht den Rest deines Lebens einfach links liegen lassen.” Gūrad sah ihn nur abweisend an. „Vater, bitte!”, flehte er, „Sprich mit mir!” „Lass mich los!”, zischte der Alte durch seine zusammengebissenen Zähne, „Lass mich gefälligst los! Du hast schon genug Schaden angerichtet!” Erschrocken ließ Tabrun seinen Vater los. Grenzenlose Wut kroch in ihm hoch. Aufgebracht sahen sich Vater und Sohn einander an. „Okay, du bist wütend auf mich, weil du mich für Mandraks Tod verantwortlich machst.”, sagte Tabrun zornig, „Das verstehe ich gut. Das ist dein gutes Recht. Aber glaubst du allen Ernstes, dass es für mich leichter ist, Vater?” Gūrad sah seinen ältesten Sohn immer noch wortlos und abweisend an, während dieser fortfuhr. „Für mich ist das auch nicht einfach, denn ich musste sogar hilflos mitansehen, wie er mit dieser verfluchten Bestie von einem Xulari zusammen in diesen verdammten Abgrund stürzte!”, schrie er seinen Vater an, „Verstehst du das? Ich habe ihn sterben gesehen und konnte ihm nicht helfen! Jede Nacht sehe ich diese Szene vor mir. Jeden Tag und jede Nacht höre ich seinen angsterfüllten Todesschrei, den er ausstieß, als er in die Tiefe stürzte!” Mit seinen Fäusten begann er auf seinen Vater einzuschlagen, der sich nicht wehrte und stattdessen seinen Sohn nur stumm ansah. Dann brach Tabrun vor den Augen seines Vaters zusammen und weinte hemmungslos. „Ich wünschte mir, ich könnte das Ganze rückgängig machen, aber ich kann es nicht.”, schluchzte er verzweifelt, „Ich würde mein Leben für Mandrak geben, nur um meinem Bruder zurückzuholen.” Weder Gūrad noch Tabrun merkten, wie einer der Knechte eine Magd wegen des Streits nach Darūña schickte. Nur wenige Augenblicke später kam sie zusammen mit Tabruns restlichen Geschwistern herbeigeeilt. Am Eingang der Scheune blieben sie stehen und waren entsetzt, als sie sahen, das Tabrun weinend am Boden lag. Sein Vater kniete neben ihm. Die Heugabel lag neben ihnen auf dem Steinboden der Scheune.
„Bei Zātul! Was habe ich getan?”, sagte er zutiefst erschrocken über sich selbst und streckte erschüttert seine Hand nach Tabruns Schopf aus, „Das habe ich nicht gewollt.” Als seine leicht zitternden Finger Tabrun berührten, weinte er ebenfalls. Ohne ein Wort zusagen, nahm er seinen Sohn in die Arme und drückte ihn so fest er nur konnte an sich. „Verzeih mir, mein Sohn.”, sagte er mit Tränen erstickter Stimme, „Ich war ungerecht zu dir. Ich habe dich für etwas verantwortlich gemacht, wofür du nichts konntest. In meiner Wut und Trauer war ich viel zu blind gewesen, um zu merken, wie sehr du selbst unter Mandraks Tod leidest. Verzeih mir, Tabrun, verzeih mir.” „Ich wollte doch nicht, das Mandrak etwas passiert.”, schluchzte der Schwarzhaarige, „Ich wollte doch nicht, das er stirbt.” Gūrad drückte ihn noch fester an sich. „Ich weiß, Tabrun, ich weiß.”, antwortete der Vater und streichelte seinem Sohn liebevoll über das dunkle Haar, „Du hättest lieber dich geopfert als Mandrak, wenn du das gekonnt hättest. Bei Zātul und allen anderen Göttern! Wie konntest du nur die ganze Zeit über diese schwere Schuld ertragen?” Langsam waren Darūña und der Rest der Familie nähergetreten. Wenig später lagen sich alle Familienmitglieder weinend in den Armen.
Nachdem sich alle wieder etwas beruhigt hatten, verließen sie die große Scheune. Als Talāna sich mit einem Taschentuch die Nase schnäuzte, sah sie in die Richtung der Hofseinfahrt, wo sie mehrere Reiter erblickte, die sich dem Hof näherten. Sofort machte sie alle anderen darauf aufmerksam und die gesamte Familie beobachtete, wie die Gestalten auf ihren Kojn-Kojns rasch näher kamen. Wenig später hielten die beiden Reiter an und stiegen von ihren Tieren ab. Beide trugen weite Umhänge mit Kapuzen, die ihre Gesichter verdeckten. Direkt vor Gūrad und seiner Familie blieben sie stehen und nahmen ihre Kapuzen ab. Die gesamte Familie schnappte überrascht nach Luft, als sie den Mann erkannten, der vor ihnen stand. Es war Mandrak. Die Frau, die bei ihm war, kannten sie selbst nicht. Nur Tabrun erkannte sie. Es war Dilāra, die Tochter von Temka Dajhān und Kelūru Mandūri, dem Anführer der Xendavas.
„Na, was ist dann denn für eine Begrüßung, wenn man von Toten wieder zurückkommt?”, sagte Mandrak über die überraschten Gesichtern seiner Familie amüsiert, „Ich dachte, wenn ich schon nach Hause komme, gibt es mindestens eine Riesenüberraschungsfeier.” Der erste, der sich von der Familie löste und auf den Hellbraunhaarigen losstürmte, war Tabrun. „Bei allen Göttern! Mandrak, du lebst!”, rief er freudestrahlend, „Das ist nicht zu glauben. Ich dachte, du seist tot!” Mandrak grinste breit. „Tot?”, meinte dieser belustigt, „Das hättest ihr wohl gerne. Aber nicht mit mir. Mich müsst ihr noch eine verdammt lange Zeit ertragen.” Dann nahm Mandrak Dilāras Hand und sah seine Eltern und Geschwister an. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er fortfuhr. „Wie ihr alle seht, bin ich nicht allein hergekommen.”, sagte er und zog dabei die Braunhaarige an sich, die ihn sofort zärtlich umarmte, „Das ist Dilāra, meine Frau. Sie ist die Tochter von Temka Dajhān und Kelūru Mandūri. Ihr Vater ist der Anführer der Xendavas.”
Gūrad trat langsam auf seinen jüngsten Sohn zu, sah ihn erst wortlos an und nahm ihn sofort in seine Arme. Der alte Farmer weinte. Auch Darūña schloss Mandrak in ihre Arme und weinte ebenfalls. Nachdem die Familie auch Dilāra begrüßt hatten, gingen sie zusammen ins Haus, während dessen die Knechte die Kojn-Kojns in einen großen Stall brachten und sie mit Futter und Wasser versorgten.
An diesem Abend mussten Tabrun und Mandrak der gesamten Familie sehr detailliert von ihren Abenteuern, die sie zusammen auf ihrer Reise erlebt hatten, berichten. Alle hörten aufmerksam zu. Besonders überrascht musste Tabrun feststellen, wie gut Mandrak bereits Xendavu sprach und Dilāra im Gegenzug schon Ulanisch gelernt hatte.
„Und tobt der Bürgerkrieg immer noch im Oskonischen Kaiserreich?”, wollte Tabrun am späten Abend von seinem Bruder wissen. „Nein, der ist mittlerweile vorbei.”, antwortete Mandrak mit ernster Miene, „Aber das Oskonische Kaiserreich gibt es jetzt nicht mehr. Es wurde in zwei Staaten aufgeteilt. Jetzt gibt es ein Nordoskonisches und ein Südoskonisches Königreich. Im Norden regiert jetzt König Paludīn und im Süden wurde Prinz Gēzul zum König gekrönt.”
„Und welche Folgen hat das für die Xendavas?”, erkundigte sich Tabrun. Mandrak warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, bevor er antwortete. „Sie und die Kanda sind zusammen die wahren Verlierer des Krieges, denn sie mussten alle das Gebiet des ehemaligen Kaiserreiches verlassen, denn sowohl König Paludīn als auch König Gēzul haben die Verträge für null und nichtig erklärt. Die Xendavas haben Asyl im Aldoranischen Imperium erhalten. Wo die Kanda hingegangen sind, weiß niemand so genau.”
Eine Zeitlang saß die gesamte Familie nachdenklich schweigend im Wohnzimmer, bis Gūrad das Wort ergriff. „Wenn ich mir das Ganze jetzt noch mal so durch den Kopf gehen lasse, habt ihr beiden gegen gefährliche Wildtiere gekämpft, eine Wüste durchquert und auch einen Bürgerkrieg überlebt.”, sagte der alte Farmer fast ehrfürchtig, „Und das habt ihr nur deshalb auf euch genommen, um unsere Farm zu retten.” Tabrun und Mandrak bejahten unisono. Gūrad erhob sich aus seinen Sessel und winkte die beiden Söhne zu sich. Tabrun und Mandrak standen ebenfalls auf und traten vor ihren Vater hin, der sie sofort in seine Arme nahm. „Ihr beide habt einen alten Mann sehr glücklich gemacht, indem ihr zusammen für unsere Farm diese ganzen Strapazen auf euch genommen habt und das geschafft habt, was ich selbst nicht für möglich hielt. Ihr habt sogar Saatgut mitgebracht.”, gestand er und drückte beiden fest an sich, „Ich bin sehr stolz auf euch.”
E N D E
von Andreas Rößler, 2006 - 2008