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Ausgestreckt lag der muskulöse Mann auf seinem schmalen Bett. Er sah mit leerem Blick an die Decke hinauf, wo eine helle Neonröhre leise summend ihr Licht abgab. Seine Miene wirkte entspannt, aber er war es in Wirklichkeit nicht. Über seine Lippen kamen noch nur selten Worte und wenn, waren es sehr wenige. Der Raum, in dem er sich befand, war fast unmöbliert. Die Wände waren in einem hellen weiß gehalten. Geräusche hörte er kaum. Die Wände waren gut isoliert. Selten, nur selten hörte er jemand rufen oder schreien. Es waren Schreie der Wut und Hoffnungslosigkeit, denn sie teilten mit ihm dasselbe Schicksal. Sie warteten auf ihren Tag. Auf jenen Tag, an dem sie für immer ihre kleine Zellen verlassen durften, ohne wieder dahin zurückkehren zu müssen. Sam kannte keinen dieser Männer, weder seine Nachbarn links noch seine Nachbarn rechts von ihm. Auch die Nachbarn in den Zellen gegenüber kannte er nicht. Sie alle warteten wie er auf ihren Tag, denn sie saßen alle im selben Gefängnistrakt, aus dem es kein Entkommen gab. Es waren viele gekommen und wieder gegangen. Nur Sam musste immer noch warten. Warten auf den Tag, an dem es auch für ihn Zeit war, seine Zelle für immer zu verlassen. Das Licht erlosch. Das stetige Summen der Neonröhre verstummte. Sam gab einen tiefen Seufzer von sich und schloss die Augen.

Wieder kamen alte Erinnerungen hoch. Er dachte an Susan, seine Frau. Sie war eine atemberaubende Schönheit. Ihre Haut war makellos. Ihre Figur war wohlproportioniert. Sie war eine verhältnismäßig große Frau. Wenn sie vor ihm stand, war sie mit ihm fast auf Augenhöhe. Es fehlten ja nur anderthalb Zentimeter. Deutlich hörte er ihre Stimme, ihr Lachen. Sam vermisste sie sehr. Er fühlte die große Leere in seiner Seele. Susan war fort und mit ihr ihre gemeinsam Tochter Nelly. Sam Baker fühlte wie Wut, Verzweiflung und auch Frust in ihm aufkeimten. Susan war gegangen und mit ihr auch seine Tochter.

Der Grund war für Sam verständlich und dennoch spürte er den abgrundtiefen Schmerz in seiner Seele, der immer noch in ihm brannte. Der Grund für die Trennung geschah am Tage ihrer Hochzeit. Susan war bereits schwanger, aber davon war nichts zu sehen. Erst während des Eröffnungstanzes flüsterte sie ihm die neue Nachricht ins Ohr. Noch während sie gemeinsam in absoluter Glückseligkeit tanzten, bahnten sich mehrere Polizisten durch die Schar der Hochzeitsgäste. Direkt vor Susan und Samuel blieben sie stehen und fragten ihn nach seinen Namen. Als er ihnen sagte, dass er Sam Baker war, klickten die Handschellen. Sie verhafteten ihn und nahmen ihn mit. Sam erinnerte sich noch genau an die Blicke der Gäste, seiner Frau und seiner Familie sowie seinen zahlreichen Freunden. Zutiefst schockiert schauten alle Sam nach, wie er von der Polizei abgeführt wurde. Alle hörten, was man ihn vorwarf. Ihm wurde eines der schlimmsten Verbrechen vorgeworfen, die man begehen konnte. Sie hatten ihn wegen Mordes festgenommen. Beim Verlassen der Halle spürte er die Blicke der Anwesenden.

Der Prozess ließ nicht lange auf sich warten. Sein Anwalt tat, was er konnte, um Sam wieder aus der Sache rauszuboxen, aber es war hoffnungslos. Das Gericht verurteilte Samuel Baker wegen schweren Raubmordes zum Tod. Seit diesem Tag saß er nun in dieser Zelle und wartete auf den Tag seiner Hinrichtung. Sein Anwalt Doktor Brown erwirkte immer wieder neue Aufschiebungen, wenn ein neuer Termin für Sam festgesetzt wurde. Er war sehr ehrgeizig und er war davon überzeugt, dass Sam unschuldig war. Er recherchierte tagtäglich nach neuen Beweisen, die Sam entlasten konnten, aber er fand nichts außer ein Foto, das er verwenden konnte. Auf dem Foto war eine Hand und einen kleinen Teil des Unterarms zu sehen. An der Außenseite des Handgelenks war ein dunkles y-förmiges Muttermal zu sehen. Es war die rechte Hand des Mörders. Es war das einzige Bild, das vom Mörder gemacht wurde. Am Anfang hatte Sam fest daran geglaubt, die Zelle eines Tages als freier Mann wieder verlassen zu können, aber dies geschah nicht. Viele Jahre gingen ins Land. Nach einigen Jahren erhielt er einen Brief von Susan. Sie schrieb ihm, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Sie teilte ihm mit, dass sie diese Situation nicht mehr ertragen konnte und Nelly sollte nicht als Tochter eines Straftäters aufwachsen. Sie schrieb, dass sie nicht mehr sicher war, ob Sam unschuldig war oder nicht. Sie liebte ihn zwar, aber sie musste an das Wohl ihrer gemeinsamen Tochter denken. Sie hätte keine andere Wahl als diesen Weg zu gehen. Sam konnte seine Frau verstehen, aber dennoch taten ihm diese Zeilen sehr weh. Er war zutiefst enttäuscht von ihr. Sam merkte nicht, wie er langsam in den Schlaf überglitt.

Plötzlich schreckte er aus dem Schlaf hoch. Er hatte das Gefühl, als wäre er mit einem Male nicht mehr allein in der Zelle. Er sah sich um, konnte aber nichts entdecken. In dem Raum, in dem er sich befand, herrschte völlige Finsternis. Er horchte, konnte aber nur sein Atmen hören, mehr nicht. Sam spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Sein Gefühl sagte ihm, dass er nicht allein war. Das ist doch Blödsinn!, sagte er sich. Das kann doch gar nicht sein! Wer sollte denn schon nachts zu ihm in die Zelle kommen? Es war eine gute Frage. Sam richtete sich auf, schwang seine Beine über die Bettkante und blieb so auf dem Bett sitzen. Angestrengt horchte er. Vergeblich versuchte er die Dunkelheit, die ihm umgab zu durchdringen. Es gelang ihm nicht. Dann glaubte er jemand singen zu hören. Es war eine helle sehr angenehme Frauenstimme, die ihm sehr bekannt vorkam. Wenig später hörte er eine weitere Stimme. Leise hörte er sie ein Wort sagen, das ihm eine Gänsehaut bescherte. Es war ein Wort, dass er nie von seiner Tochter gehört hatte. Es lautete Daddy. Leise rief die Frauenstimme seinen Namen. „Susan? Nelly?“, hörte er jemand in die Dunkelheit fragen. Sam erschrak, als er begriff, dass er es war, der gerade diese Frage gestellt hatte. Er lauschte dem leisen Gesang, aber die Frauenstimme antwortete ihm nicht. Auch die zweite Stimme, die eher wie ein zaghaftes Flüstern klang, schwieg nun. Du sitzt schon viel zu lange in diesem Loch!, sagte Sam sich, 23 Jahre sind definitiv zu viel! Seufzend legte er sich wieder hin und schloss die Augen. Wenig später war er wieder fest eingeschlafen.

Licht flammte auf. Sam blinzelte. Die Neonröhre summte leise. Dann hörte Sam, wie jemand die Tür aufschloss und hereintrat. Sam richtete sich auf. Ein Wärter stand in der Tür. Zwei weitere standen hinter ihm. Der Uniformierte trat ans Sams Bett. Der Gefangene stand auf. Der Duft des Rasierwassers des Wärters kitzelte in Sams Nase. Beide Männer sahen sich an. „Es ist soweit, nicht wahr?“, fragte Baker. Der Wärter nickte. “Ja, heute ist dein Tag, Sam. Das Warten hat nun ein Ende.“ Sam Baker nickte. Er verstand. Fragend sah er den Wärter an. Dieser verstand die stumme Frage nur allzu gut. Der Wärter teilte ihm die Uhrzeit mit ausdrucksloser Miene mit. „Hast du noch einen Wunsch?“, wollte der dunkelhaarige Wärter von Sam wissen. Sam machte ein nachdenkliches Gesicht. Dann nickte er mit dem Kopf. „Ja, ich habe noch einen Wunsch. Ich hätte sehr gerne meine Frau und meine Tochter noch mal gesehen, damit ich weiß, dass es ihnen gut geht.“ Die drei Wärter tauschten untereinander kurze Blicke aus, schwiegen jedoch. „Wir werden versuchen, sie so rasch wie möglichst herzuholen.“, versprach der Dunkelhaarige. Dann verließ er die Zelle. Sam sah ihnen nach. Die Tür wurde wieder verschlossen. Das Geräusch, als die Tür wieder abgeschlossen wurde, dröhnte überlaut in seine Ohren. Sam ließ sich auf die Bettkante nieder. Er wusste, dass es nun kein zurück mehr gab. Heute war der Tag gekommen, an dem er für immer diese Zelle verlassen sollte. Heute Nachmittag. Ihm blieben nur noch wenige Stunden. Nach dreiundzwanzig langen Jahren war das Warten vorbei.

Stunden später wurde die Tür erneut geöffnet. Wortlos sah Sam die uniformierten Männer an. Der dreiundvierzigjährige Gefangene erhob sich und trat an die Tür. Sofort wichen die vier Männer einen Schritt vor dem hünenhaften Mann zurück. Niemand sagte etwas. Sam sah sie alle nacheinander kurz an. Dann wandte er sich dem Gang zu, dem er vor mehr als zwei Jahrzehnten entlangging, als er in seine Zelle geführt wurde. Die Wärter setzten sich in Bewegung.

Die Tür stand offen, als sie hindurch schritten. In der Mitte des Raumes blieben die Wärter stehen. Sam ebenfalls. Sein Blick war auf etwas gerichtet, was er nur aus zahlreichen Fernseh- und Kinofilmen kannte. Er stand vor dem elektrischen Stuhl. Er war all die Jahre ruhig geblieben. Angst vor dem Tod hatte er, aber während er sich in seiner Zelle befand, war sie nur sehr vage gewesen. Die Angst wechselte sich immer wieder mit der Hoffnung auf eine unerwartete Freilassung ab. Er konnte es selbst nicht beschreiben, aber irgendwie versprach ihm seine Zelle eine gewisse Sicherheit. So lange er dort war, blieb er am Leben. Doch heute war es anders. Jetzt war er nicht mehr dort, sondern hier in jenem Raum mit diesem grässlichen Stuhl. Jetzt war er genau dort, wo er am allerwenigsten auf der Welt sein wollte und er wusste, dass er seinem Schicksal nicht mehr entkommen konnte. Die Uniformierten führten ihn zum Stuhl und zwangen den muskulösen Mann mit sanfter Gewalt dort Platz zu nehmen. Sam fühlte Angst, nein, regelrechte Panik in sich aufkeimen. Nein!, schrie er innerlich, Ich will nicht sterben! Ich will leben! Ich will frei sein! Schweiß brach aus allen seinen Poren aus. Sam spürte wie sein Puls zu rasen begann. Sein Blut rauschte in seinen Ohren. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Doch die Männer fesselten den Mann. Kaltes Metall umschloss nun seine Unterarme und seine Beine. Jede Bewegung von ihnen waren routiniert. Sam versuchte sie anzusehen, ihnen in die Augen zu sehen, doch sie ließen es nicht zu. Nachdem sie mit dem Vorbereitungen fertig waren, traten sie zurück. Die Angst schnürte Sams Kehle zu. Er wollte schreien, die Anwesenden anflehen, ihn freizulassen, ihn am Leben zu lassen. Doch aus seiner ausgetrockneten Kehle kam nur ein unverständliches Krächzen. Wortlos sahen ihn alle an. Erst in diesem Augenblick sah er das große Fenster, hinter dem die Zeugen seiner Hinrichtung saßen.

Er erkannte Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und Hautfarbe. Sam schluckte. Er kannte keinen von ihnen. Ein Mann trat vor und stellte sich vor Sam hin. Seine Worte waren klar und deutlich, als er mit sonorer Stimme sprach. Er verlas das Todesurteil, das vor mehr als zwei Jahrzehnten gefällt wurde. Der Mann sah ihn mit kühlen Blick an. „Möchten Sie noch etwas sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird, Mr. Baker?“, fragte er routiniert. „Ja, ich möchte noch etwas sagen.“, antwortete der Gefangene mit vor Angst bebender Stimme. „Sagt meiner Frau Susan und meiner Tochter Nelly, dass ich sie über alles liebe und dass ich unschuldig bin.“ Der Mann nickte. „Ich verstehe.“, erwiderte er, „Es tut mir leid, dass wir sie nicht herholen konnten, um ihren letzten Wunsch zu entsprechen. Aber sie sind unbekannt verzogen und wir konnten sie in dieser kurzen Zeit leider nicht so schnell ausfindig machen.“

Sam nahm die Worte des Mannes zutiefst enttäuscht zur Kenntnis. Er wusste, dass er sie nie mehr sehen würde. Nelly hatte er nur auf Fotos gesehen und es wäre für ihn sehr schön gewesen, seine Tochter mal zu berühren und auf den Arm zu halten, ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte. Doch dies würde niemals geschehen. Das wusste Sam. Seine Zeit auf Erden war abgelaufen. Eine unendliche Traurigkeit übermannte ihn. Der Mann nickte einem der Wärter zu. Dieser trat an den Stuhl heran und zog eine Art schwarze Kapuze über Sams Kopf. Er sah nichts mehr. Grenzenlose Angst explodierte in ihm und Sam spürte, wie sein Herz wild zu pochen begann. Niemand sah die stummen Tränen, die dem dreinundvierzigjährigen Mann über die Wangen liefen. „Möge Gott Ihrer Seele gnädig sein.“, sagte jemand. Dann überstürzten sich die Ereignisse.

Eine Tür wurde aufgerissen und ein Mann im dunklen Nadelstreifenanzug bekleidet und mit einem dunklen Aktenkoffer in der Hand stürmte in den Raum. Es war Sams Anwalt, der triumphierend etwas in seiner linken Hand hochhielt. In derselben Zeit, als Doktor Brown in den Raum stürmte, wurden die Hebel gerade nach unten gedrückt. Sam bekam vom dem Tumult nichts mehr mit.

„Halt!“, donnerte die Stimme des Anwalt durch den Raum, „Mr. Baker ist unschuldig. Hier habe ich den eindeutigen Beweis.“ Alle sahen den Mann an. „Sofort den Vorgang abbrechen!“, brüllte einer der Wärter, doch es war bereits zu spät. Mehrere Lampen flackerten kurz auf. Dann zersprangen einige Glühbirnen. Sams verkrampfter Körper zuckte in tödlicher Agonie. Laut klapperte es, als jemand den Hebel wieder zurückstellte. Sam erschlaffte augenblicklich. Doktor Brown trat an die Anwesenden heran. Direkt vor der Scheibe blieb er stehen und hielt das Foto hoch. „Mr. Baker ist unschuldig.“, sagte er noch mal, „Dieses Foto ist der Beweis. Auf dem ist die rechte Hand des Mörders zu sehen. Auf der Außenseite hat er ein y-förmiges Muttermal.“ „Aber Mr. Baker hat dieses Muttermal doch an seinem Handgelenk.“, sagte einer der Wächter. „Ja, aber am linken Handgelenk und es ist auf der Innenseite, fast am Daumenansatz.“, entgegnete der Anwalt, „Sehen Sie nach.“ Einer der Wächter trat neben den Stuhl und sah auf Sams linkes Handgelenk. Die Hand war verkrampft. Deutlich war das Muttermal zu erkennen. Dann warf er einen Blick auf Sams rechtes Handgelenk, wo kein Muttermal zu sehen war. Der Wärter wandte sich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck den Anwesenden zu und nickte wortlos. Die Stille, die sich augenblicklich im Raum breitmachte, war erdrückend und anklagend zugleich.

Doch bevor noch jemand reagieren konnte, geschah etwas. Helles Licht begann Sams leblosen Körper einzuhüllen. Deutlich hörten sie den leisen Gesang einer angenehmen weichen Frauenstimme. Zusätzlich war auch noch das leise Lachen eines Kindes zu hören. Auch die Zeugen waren im Nebenzimmer aufgesprungen und starrten gebannt durch das Fenster. Das Licht, das Sam umgab wurde immer heller. Unwillkürlich schlossen die Anwesenden ihre Augen, um nicht zu erblinden. Kurz darauf war das helle Licht wieder verschwunden und ebenso auch der Gesang. Das Kinderlachen war ebenso nicht mehr zu hören. Alle öffneten wieder ihre Augen und blickten auf den elektrischen Stuhl und waren verblüfft. Sam Baker war verschwunden.

Helles Licht umgab ihm. Er fühlte keine Schmerzen, keine Trauer, keine Wut und keine Verzweiflung mehr. Nur noch Glück. Es war unbeschreiblich. Sam machte seine Augen auf und blickte gen Himmel. Der war blau und wolkenlos. Irgendwoher hörte er Stimmen. Es waren vertraute Stimmen. Er richtete sich auf und sah sich um. Er befand sich auf einer großen Wiese, die mit zahlreichen bunten Blumen verziert war. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft und ein leichter süßlicher Duft ging von den Blumen aus. Zwei Gestalten kamen auf ihn zu und lachten. Er erkannte seine Frau Susan und seine Tochter Nelly.

ENDE

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