Es war Frühling geworden in Little Federation und ich saß auf meiner Terrasse und sah den Kindern im nahen Stadtpark beim Spielen zu. Eigentlich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, musste ich sagen, ich hörte ihnen zu. Ich wusste zu jenem Zeitpunkt ja noch nicht, welche Bedeutung dieser kleine Unterschied noch haben sollte.
Jedenfalls erkannte ich auch unter den vielen Stimmen die von Novus und Malcolm sehr genau. Radcliffes hatten ihre Therapie erfolgreich beendet und waren in unsere Heimatstadt zurückgekehrt. Novus war aus einer Einrichtung auf Celsius ebenfalls in die Obhut seiner Eltern entlassen worden, nachdem Professor Teva Saren, ihres Zeichens Expertin für Androiden, und Chief-Techniker Ayora ihr OK gegeben und ihn als gesellschaftsfähig erachtet hatten. Aufgrund seiner Entstehungsgeschichte war dies auch sicher ein korrekter Schritt gewesen. Man musste ja schließlich genau untersuchen, womit man es hier zu tun hatte, bevor die Verantwortlichen ihn auf die Menschheit loslassen würden, aber alles war in Ordnung.
Ich fand es sehr gut, dass sich Novus offensichtlich so gut in die Kindergruppe integriert hatte und dass offensichtlich keines der Kinder Angst vor ihm zu haben schien. Im Gegenteil! Meinen Beobachtungen zufolge war es sogar so, dass sie sich darum rissen, ihn in ihrem Team zu haben, oder einfach nur einzeln mit ihm zu spielen. Er schien sogar einen Freund in Malcolm gefunden zu haben! Ausgerechnet in Malcolm, der ja an sich sehr ängstlich war, wenn man bedachte, was er erlebt hatte. Aber gerade er setzte sich jetzt mit einer riesigen Tüte Gummibärchen und gemeinsam mit Novus auf eine Bank, die nah bei dem Tor zum Stadtpark lag, das an die Sisko Road, in der ich lebte, grenzte. Dann hörte ich das Rascheln der Tüte und schloss, dass er einige Bärchen herausgenommen haben musste. Diese musste er Novus jetzt hingehalten haben. Jedenfalls ließ seine Frage an den Androiden keinen anderen Schluss zu: „Willst du auch?“ „Ich kann nicht essen.“, hatte Novus ruhig und sachlich entgegnet. Dabei war mir aufgefallen, dass er eine sehr kindliche Stimme verwendet hatte, die zwar seinem Alter entsprach, allerdings alles, was ich bisher über Androiden wusste, lügen strafte. Ich konnte mich an meinen Geschichtsunterricht auf der Akademie noch sehr gut erinnern und wusste, dass Data wohl von Anfang an eine erwachsene Stimme gehabt haben musste. Auch die von Lal war eigentlich immer sehr erwachsen gewesen. Aber schließlich war Novus’ Mutter, Cupernica, eine Androidin aus einer fremden Dimension. Es konnte also theoretisch alles möglich sein. Vielleicht würde Novus’ Programmierung seine Stimme im Laufe seines Lebens einfach an sein Alter anpassen. Wenn dies stimmte, war es sicher ein Umstand, der ihm die Integration in diese Kindergruppe sehr erleichtert hatte.
Malcolm musste die Bärchen inzwischen in seinen eigenen Mund gesteckt haben, denn er schmatzte: „Du Armer! Die schmecken nämlich echt gut.“ Dann schluckte er herunter und fragte seinen Freund: „Hast du auch das komische Lied neulich gehört, dass sie im Fernsehen gespielt haben? Ich meine das über den verliebten Mann, der eine Granate fangen würde für seine Freundin. Meine Eltern haben eine Sendung über alte Musik geguckt und da kam es vor. Dann habe ich meinen Vater gefragt, was eine Granate ist. Ich dachte, er muss das wissen, weil er mit alten Sachen arbeitet. Er hat gesagt, eine Granate ist eine alte Waffe gewesen. Die war ganz doll gefährlich. Wenn man die abkriegte, dann konnte man sterben oder wurde ganz doll verletzt. Wenn das bedeutet, dass ich sterben muss, wenn ich mich verliebe, dann möchte ich mich nie verlieben!“ Ein verzweifeltes Weinen drang an mein Ohr. Dann hörte ich Novus antworten: „Irgendwas passt hier sowieso nicht zusammen. Wenn der Mann tot ist, weil er durch die Granate gestorben ist, dann lässt er doch die Frau traurig zurück. Jemand, der jemanden liebt, will doch nicht, dass ihr Leid geschieht. Ich an deren Stelle hätte also einfach den Spaziergang durch ein Kriegsgebiet vermieden. So etwas zu tun ist nämlich sehr dumm und sehr gefährlich! Aber ich weiß, zu wem wir gehen können, um dieses Problem zu lösen.“
Er stand auf und nahm Malcolm bei der Hand. Dann ging er mit ihm auf mein Haus zu. Er wusste, dass ich sehr gut erklären konnte, hoffte also, dass ich in der Lage wäre, diesen Datenkonflikt beizulegen. Tatsächlich waren die Jungen auch bald angekommen und standen mir jetzt außerhalb der Brüstung meiner Terrasse gegenüber. „Haben Sie einen Moment Zeit, Mrs. Scott?“, fragte Novus, der, wie alle fremden Zivilisten, meinen Nachnamen verwendete, wenn er mich ansprach. Er war zwar der Sohn zweier Sternenflottenoffiziere, galt aber, weil er ein Kind war, das ja noch keinen Beruf ergriffen hatte, noch als Zivilist. Ob er in die Fußstapfen seiner Eltern treten würde, würde sich noch herausstellen, wenn es Zeit dafür war. Im Gegensatz zu allen anderen Kindern in seinem Alter, die mich Tante Betsy nannten, war seine doch sehr erwachsen klingende Anrede wohl dem Umstand geschuldet, dass er Androide war. „Oh, sicher.“, sagte ich und lächelte. Da ich einen Großteil mitbekommen hatte, war mir sehr schnell klar geworden, dass sie meine Hilfe brauchten, wenn die Sache nicht komplett in die falsche Richtung laufen und ein Trauma bei Malcolm auslösen sollte. Novus war in diesem Fall, auch wenn er ein paar Jahre älter als Malcolm war, sicher kein passender großer Freund, um so eine Frage beantworten zu können.
Ich berührte mit dem Finger einen Sensor, der den Hausrechner anwies, die Tür in der Brüstung zu öffnen. Dann winkte ich Novus und Malcolm zu mir herein. Wenig später setzten wir uns an den Tisch. „Ich hole uns mal eben was, damit wir es gemütlicher haben.“, sagte ich und drehte mich in Richtung meines Wohnzimmers. „Ich würde sagen, zweimal eine heiße Schokolade und einen Akku.“ Malcolm musste grinsen, aber Novus sagte: „Ich habe keinen Bedarf, meine Energievorräte aufzufrischen, Mrs. Scott.“ „Sie hat einen Witz gemacht, du Dummi!“, sagte Malcolm. „Manno, wann verstehst du das endlich!“
Ich war mit dem Tablett, auf dem ich die replizierten Tassen mit der heißen Schokolade hatte, zu den Kindern zurückgekehrt. „Tante Betsy?“, fragte Malcolm entrüstet. „Mein Vater sagt, Novus is’ ganz doll schlau. Aber er versteht nich’, wenn ich einen Witz mache. Dabei is’ das doch babyleicht!“ „Für uns ja.“, sagte ich, während ich eine Tasse vor ihm abstellte. „Aber der Computer in eurem Haus kann auch keine Witze verstehen, wenn man es ihm nicht sagt. Du weißt, dass Novus so was wie ein Computerkind ist. Er muss jeden Witz als einen Solchen erkennen lernen. Aber dabei können wir ihm helfen. Dass müssen wir sogar, damit es keine Missverständnisse gibt.“ „Aber wenn Novus das nicht kann.“, sagte Malcolm. „Dann hat er da ja eine Behinderung wie du, Tante Betsy. Ich meine, du kannst ja auch manches nich’ verstehen, weil du es nich’ sehen kannst. Aber dann fragst du jemanden.“ „Genau.“, sagte ich. „Und das Gleiche kann Novus auch machen. Aber ich glaube, wir sind schon mitten im Thema, nicht wahr?“ „Exakt, Tante Betsy.“, sagte Novus, der seine Sprechweise jetzt wohl der von Malcolm angepasst hatte, weil er dies wohl wegen der Integration am besten fand. „Eine Information hat einen Datenkonflikt bei mir ausgelöst. Wenn ein Mann durch eine Granate stirbt, der in eine Frau verliebt ist, lässt er sie trauernd zurück. Trauer ist keine sehr positive Emotion. Die verursacht Leid. Aber das ist etwas, das ein Liebender doch eigentlich nicht wollen kann, oder? Meiner Ansicht nach ist es sowieso klüger, wenn das Paar erst gar nicht durch ein Kriegsgebiet läuft, um einen romantischen Spaziergang zu machen. Dann werden beide überleben! Malcolm hat Angst, dass er sterben muss, sollte er sich einmal verlieben.“ „Ach du meine Güte!“, rief ich aus, korrigierte mich aber sofort wieder, denn ich wusste genau, dass ich bei dieser Konstellation nichts anderes erwarten konnte. Ihre Reaktionen waren schließlich die logische Konsequenz aus den Tatsachen, dass der eine ein 6-jähriges Kind und der andere eine künstliche Lebensform war. Etwas anderes war schlicht und ergreifend nicht zu erwarten und wäre auch ein Wunder gewesen. „Es tut mir leid.“, sagte ich und senkte beschwichtigend den Kopf. „Ihr könnt es ja nicht besser wissen. Aber ich bin ja jetzt hier und werde mal versuchen, es euch zu erklären.“ „Aber vorher solltest du deinen Mann rufen.“, sagte Malcolm mit viel Sorge in der Stimme. „Neulich hatte der Computer in unserem Haus auch einen Datenkonflikt und Mummy hat einen Techniker geholt. Dein Mann is’ doch auch einer!“ „Ich glaube nicht, dass wir einen brauchen, Malcolm.“, tröstete ich. „Aber wenn es dir hilft, können wir Onkel Scotty ja mal fragen. Komm!“
Ich nahm ihn bei der Hand und wir gingen in mein Wohnzimmer zu meinem Sprechgerät. Hier gab ich Scottys Rufzeichen auf Celsius ein. „Hey, Darling!“, kam es flapsig zurück. „Was verschafft mir die Ehre?! Is’ das neben dir nich’ der kleine Malcolm?“ Ich drückte den Sendeknopf und nickte. Dann sagte ich: „Scotty, wir haben hier einen Androiden mit einem Datenkonflikt. Er hat widersprüchliche Daten über etwas. Ich denke zwar, dass ich ihm auch allein helfen kann, aber Malcolm sorgt sich. Der Androide ist Novus und die zwei haben sich angefreundet.“
Scottys Antwort erahnend überprüfte ich noch einmal, ob ich das Sprechgerät auch wirklich auf Lautsprecher gestellt hatte, damit der Junge die Antwort auch würde hören können. „Kann er noch zuhören?“, fragte Scotty. Ich gab bei gedrücktem Sendeknopf nur einen bestätigenden Laut von mir. „Dann is’ es nur ’n leichter Konflikt.“, sagte Scotty. „Das kriegst du auch allein hin, Darling, so wie du gebaut bist. Du kannst doch so gut erklären. Da sehe ich überhaupt keine Probleme!“ „Danke, mein Schatz.“, sagte ich, bevor ich dem Mikrofon in Ermangelung seines Mundes noch einen dicken Kuss gab und die Verbindung beendete.
Malcolm hatte sich aus der angespannten Haltung, die er eingenommen hatte, wieder gelöst. „Wenn dein Mann das sagt, dann werde ich ihm glauben.“, sagte der 6-Jährige. „Das kannst du auch.“, sagte ich zuversichtlich. „Er ist ja schließlich ein Techniker, wie du schon festgestellt hast. Aber nun lass uns mal zu Novus zurückgehen. Schließlich muss ich euch noch was erklären und die Schokolade wird kalt. Dann bildet sie eine fiese Haut und die mag ich nicht.“ „Bääää!“, machte Malcolm. „Die mag ich auch nich’.“
Wir gingen also zu Novus zurück. Das Bild, das sich uns aber dort bot, schien zunächst sehr merkwürdig. Der Androide saß am Tisch und hatte in der einen Hand meine Tasse und in der anderen die von Malcolm. Beide Tassen dampften noch immer. Das kam mir zuerst sehr merkwürdig vor. „Was machst du da, Novus?“, fragte ich. „Du bist eingeladen zu fühlen, Tante Betsy!“, antwortete Novus fast vornehm und ich glaubte sogar, etwas Stolz in seiner Stimme vernehmen zu können. Ich begann also damit, ihn und die Tassen zu betasten. Dabei fiel mir auf, dass seine Hände sehr warm waren. Er musste mit Hilfe seines Temperaturregelungssystems die Temperatur in den Tassen stabil gehalten haben, so dass sich keine Haut bilden konnte. „Klasse, Novus!“, lobte ich und lächelte. Dann strich ich ihm mit der rechten Hand über die Schulter. Dabei fiel mir auf, dass er genau so klein wie ein durchschnittliches Kind seines Alters war. Aber ich erinnerte mich, dass Data von Anfang an die Größe eines erwachsenen Mannes gehabt hatte, als Dr. Soong ihn erschaffen hatte. „Ich denke, ich muss dir etwas erklären, Tante Betsy.“, nahm Novus meine Frage vorweg. „Alle Verstrebungen und Gelenke in meinem Körper sind so ausgelegt, dass ich durch deren Verlängerung auf die jeweils meinem Alter angepasste Größe wachsen kann. Dies erfolgt hydraulisch und wird über eine Software gesteuert, auf die ich keinen aktiven Zugriff habe. Dies ist an mein Altern gekoppelt. Wenn ich 18 Jahre alt bin, werde ich aufhören zu wachsen. Das sagt zumindest meine Mutter, von der ich diese Hard- und Software geerbt habe. Meine Mutter zu bitten, sie zu aktivieren, war der Vorschlag meines Vaters, um mich besser in die Gesellschaft der Kinder hier integrieren zu können.“ Ich staunte. „Wenn du also einen Wachstumsschub hast.“, sagte ich. „Dann surrst du wegen der Pumpen.“ „Das ist korrekt.“, sagte Novus. „Aber was ist mit deiner Haut?“, fragte ich. „Du bist eingeladen, mich zu kneifen.“, sagte der Androide höflich. „Dann wirst du es im wahrsten Sinne des Wortes begreifen.“ Zaghaft kniff ich ihn in den rechten Arm. Natürlich wusste ich, dass er keinen Schmerz im eigentlichen Sinne empfand, konnte mir aber denken, dass jeder Sensor in seinen Systemen bestimmt bei Beschädigung derselben eine Warnung aussprechen würde. „Deine Haut ist extrem dehnbar.“, stellte ich fest. „Jetzt verstehe ich. Sie wird quasi mitwachsen.“ „Korrekt.“, nickte Novus.
Ich setzte mich wieder auf meinen Platz und nahm ihm die Tassen ab, die ich wieder an Malcolm und mich verteilte. Dann sagte ich: „Jetzt hast du mir was erklärt, Novus, also bin ich jetzt ja wohl dran. Also. Die Sache mit der Granate in dem Lied ist nur ein Symbol. Natürlich weiß der Mann, dass er sterben wird, wenn er sich einer Granate entgegen wirft. Aber er will seiner Freundin damit nur sagen, dass er alles für sie tun würde. Mit Krieg hat das nichts zu tun, wie du irrtümlich geschlossen hast, Novus, und sterben muss man auch nicht, wenn man sich verliebt, Malcolm. Ach! Die menschlichen Sprachen sind voller Symbole!“ „Das musst du, als ausgebildete Kommunikationsoffizierin, ja wissen, Tante Betsy.“, sagte Novus. „Aber wie soll mir das helfen? Malcolm ist ein Mensch. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er diese Dinge irgendwann erkennt, wenn sein Gehirn dazu ausgereift genug ist. Aber ich werde das nie verstehen können.“ „Nein, Novus!“, widersprach ich energisch und benutzte mit Absicht ebenfalls erneut ein Symbol: „Da bist du aber auf dem Holzweg!“ „Ich sehe keinen Weg aus Holz.“, sagte Novus. „Obwohl ich davon ausgehe, dass du eine Brücke oder einen Steg beschrieben hast. Beides ist aber hier nicht vorhanden. … Ah! Ein Symbol! Du meinst, dass ich die Situation falsch interpretiere. Schließlich kann eine Brücke oder ein Steg leicht morsch werden und dann brechen, weshalb er dann nicht zum Ziel führen könnte.“ „Richtig.“, sagte ich lächelnd und klatschte in die Hände. „Und damit hast du dir selbst gerade widersprochen, Novus. Du musst nicht jedes Symbol einzeln lernen. Du musst nur diese Routine, die dich das alles hinterfragen lässt, aktiv lassen, auch wenn sie hin und wieder einen Datenkonflikt auslösen sollte. Die Logik wird dir dann helfen zu erkennen, ob es sich um ein Symbol handelt. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer!“
Novus überlegte eine Weile. Er hatte die kleine versteckte Aufgabe, die ich ihm gestellt hatte, durchaus als eine Solche erkannt. Dann sagte er: „Nach sorgfältiger Auswertung meiner Daten, Tante Betsy, komme ich zu dem Schluss, dass dies wiederum ein Symbol ist. Du bist nicht als jemand bekannt, der sich mit Absicht gefährden würde.“ Erneut lächelte ich ihm zu. „Das sollten wir dem komischen Opa erklären.“, sagte Malcolm und sprang auf. „Der stellt nämlich auch immer so komische Fragen! Komm, Tante Betsy! Wir zeigen ihn dir!“ Damit zogen sie mich auf die Beine und von meinem Grundstück, noch ehe ich mich versah. Ich ahnte ja noch nicht, wo hin dies noch führen sollte.
Es ging über die Straße und dann in den Stadtpark. Hier führten mich die Kinder zu einer künstlerischen Installation eines demetanischen Künstlers, die aus einer bizarr anmutenden Reihe von künstlichen Felsen bestand, die sich mit bunten Glassteinen abwechselten und somit je nach Lichteinfall ein immer anderes Bild boten. Auf einem der Felsen saß ein alter Mann. Er war grauhaarig, wie Novus mir beschrieb und trug einen etwas abgewetzten Anzug. Dazu hatte er an seinen Füßen graue Filzpantoffeln. Er war von kleinem Wuchs und hatte einen etwas unordentlich anmutenden Bart. Seinen Kopf zierte eine Halbglatze. Seine Haut war schon leicht faltig. Über seinem Nacken lag, wie ein lebendiger schwarzer Fellkragen, Caruso, dessen Anwesenheit mir durch sein lautes Schnurren verraten wurde. Ich wusste, dass der Kater gern mit jedem schmuste, der nicht schnell genug weglief, aber dass er sich sogar an völlig fremde Leute heranschmiss, war mir neu.
Malcolm zog mich näher zu dem Alten, dem er mich dann höflich vorstellte: „Opa Sidar, dass is’ Tante Betsy. Sie kann super erklären!“
Etwas hatte mich unwillkürlich den Kopf herumwerfen lassen. „Was hast du, Tante Betsy?“, fragte Novus. „Oh, nichts, gar nichts.“, stammelte ich, was aber nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn ich hatte den Namen des alten Mannes durchaus als einen eventuell tindaranischen Namen erkannt. Es konnte auch ein Name aus einer ähnlich klingenden Sprache sein, denn ich wusste, dass es zwei Schwestervölker zu den Tindaranern geben sollte. Die Existenz des einen hatte ich ja bereits bewiesen. Der Beweis dafür, dass die Saloraner existierten, war zweifelsfrei Lycira, die ich ja von einem von ihnen geerbt hatte. Die Existenz des zweiten Volkes, der Nidari-Travelers, war aber noch nicht bewiesen und die Tindaraner hielten sie wohl immer noch für einen Mythos.
Sidar erhob sich schwerfällig und kam auf mich zu. Dann gab er mir seine knochige rechte Hand und meinte: „Angenehm, Mrs. Betsy. Ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich bin Telepath und habe Sie und die Jungen beim Interagieren beobachtet. Dazu musste ich leider in deinen Kopf, Malcolm. Ich hoffe, das ist nicht schlimm.“ Malcolm schüttelte lächelnd den Kopf. Dann sagte er: „Ich vertrau’ dir, Opa Sidar.“ Da war er schon wieder gefallen, jener Name, der mich, als ausgebildete Kommunikationsoffizierin, aufhorchen lassen hatte. Ich holte tief Luft, richtete mich vor Sidar auf und fragte in korrekter tindaranischer und saloranischer Anredeweise gerade heraus: „Bist du Tindaraner oder Saloraner?“ „Nein.“, lächelte Sidar. „Die beiden Völker sind ein Mythos! Zumindest nach unserem bisherigen Wissen. Ich bin ein Nidari-Traveler. Wir sind allerdings immer auf der Suche nach neuen Freundschaften und einige von uns glauben auch an die Existenz der Tindaraner und der Saloraner. Aber das ist bisher noch nie bewiesen worden. Wenn wir allerdings zu jemandem einen ersten Kontakt aufbauen, dann müssen wir zunächst viel über das Volk erfahren. Es gibt viele Rätsel über das Deine, die du mir vielleicht beantworten kannst, wenn du wirklich so gut erklären kannst, wie der Junge meint. Fangen wir doch einmal hiermit an.“
Er reichte mir ein Pad, dessen Computer mir einige Stellen aus den wichtigsten Büchern der fünf größten Weltreligionen vorlas. Dann sagte er: „Ich habe schon viele Völker kennen gelernt. Dein Volk ist wissenschaftlich heute schon sehr weit und ihr könnt vieles widerlegen, was hier gesagt wird. Glaubst du wortwörtlich an das hier?“ „Nein.“, sagte ich diplomatisch. „Ich persönlich denke, dass vieles, das hier steht, sicher im Kontext der Zeit zu sehen ist, in der die Bücher geschrieben wurden. Vieles ist sicher nur im übertragenen Sinne und symbolisch zu betrachten. Nehmen wir mal die Stelle, an der ein Blinder von dem Sohn unseres Gottes sein Augenlicht wiederbekommen haben soll. Ich persönlich glaube eher, dass er gelernt hat, mit dem Geist zu sehen. Ich meine damit, dass ihm gesagt wurde, dass er ja noch ganz andere Sinne zur Verfügung hat, die ihm einiges sagen können. Blinde galten zu der Zeit, aus der das Buch stammt, als dumm und nichts nütze. Wenn so jemandem aber jemand beibrachte, Ohren, Hände und den Geschmacks- und Geruchssinn richtig einzusetzen, konnte man schon zurechtkommen, indem man sich so im Kopf ein eigenes Bild von der Welt machte. So etwas wurde natürlich zu der Zeit nicht gemacht, aber …“
Sidar lächelte mir zu, zog mich neben sich auf den Felsen und sagte dann: „Auch du hast einen sehenden Geist, auch wenn deine Augen blind sind. Nur jemand, der einen Solchen hat, kann so etwas erkennen. Das ist unser Kriterium Nummer eins, wenn es darum geht, mit einem Volk einen ersten Kontakt zu knüpfen. Das muss ich unbedingt den anderen Forschern mitteilen!“
Ein Sausen erfüllte die Luft und dann beschrieb mir Novus ein silbernes Licht, das von Sidar aufstieg. Dies machte Malcolm wiederum solche Angst, dass er die Hand des Alten griff und schrie: „Was passiert mit dir, Opa Sidar?! Ich hab’ Angst! Tante Betsy! Hilfe!!!“
Ich konnte nichts tun. Ich saß da und konnte nichts tun. Meinen Erfasser hatte ich nicht bei mir, sonst hätte ich sicher einen ganz anderen Einblick in die Situation gehabt. Aber wer konnte denn schon ahnen, dass ich ihn benötigen würde? Mir ging außerdem etwas anderes nicht aus dem Kopf. Einen sehenden Geist zu haben, dieses geflügelte Wort kannte ich ebenfalls aus dem Tindaranischen. Es bezeichnete dort jemanden, der sehr intelligent war und der es verstand, die Welt auf eine sehr weitsichtige Weise zu verstehen. Jemand zum Beispiel, der nicht vorschnell urteilte, sondern sich erst alle Informationen holte und alle Konsequenzen, soweit es möglich war, zunächst bedachte. Das war schon wieder so eine Parallele zu den Tindaranern!
Novus fasste plötzlich meine linke Hand und führte sie auf die von Malcolm und Opa Sidar. Mir fiel sofort auf, dass die Hand des Alten irgendwie versteinert wirkte. Seine und die Finger des Jungen waren aber so ineinander verschlungen, dass sie wohl nicht zu trennen waren, wenn uns nichts einfiel. Wenn der Kristallisierungsprozess so weiter andauerte, würde man die Beiden nur noch operativ trennen können. Ich wusste, dass der Prozess, zumindest bei Tindaranern, ein Teil des Sterbens war, aber das durfte ich dem stark zitternden Malcolm nicht sagen. Er hatte schon Angst genug.
Jemand hatte uns beobachtet. Es war ein Passant, ein demetanischer Tourist, der sich uns jetzt näherte und in radebrechendem Englisch fragte: „SITCH?“ Er schien sehr aufgeregt und war deshalb wohl nicht in der Lage, einen Universalübersetzer geschweige denn ein Sprechgerät zu bedienen. Ich nickte und deutete auf mein Haus. Dann winkte ich ihm und Novus, mir zu folgen. Der Demetaner lehnte jedoch ab: „Nein, ich bleib’ bei Kind! Kind Angst. Ich trösten!“ Ich wandte mich deutlich um und sagte langsam und freundlich: „OK.“ Dann gingen Novus und ich in Richtung meines Hauses. Hier sagte ich: „Wir verständigen den Notruf! Aber du holst auch deine Mutter!“ Der Androide zog ein Haftmodul aus der Tasche. „Darf ich es an dein Sprechgerät anschließen?“, fragte er. „Dann kenne ich nämlich einen sehr effizienten Weg, meine Mutter zu verständigen.“ Ich nickte ihm nur erleichtert zu.
In Cupernicas Praxis waren Oxilon, ihr talaxianischer Assistent und Cupernica selbst gerade dabei, die letzten Nachbereitungen des Tages zu treffen. Auch einige Patienten waren noch im Wartezimmer, aber das waren allesamt leichte Fälle, die meistens wegen ihrer jährlichen Untersuchung gekommen waren. „Ich habe die Proben für das Labor auf Platonien in die Frachtbehälter verpackt.“, sagte Oxilon. „Sehr gut, Mr. Oxilon.“, lobte seine Vorgesetzte. „Dann können Sie ja gleich noch …“
Sie hatte innegehalten und war stocksteif sitzen geblieben. Wer Cupernica kannte, wusste, dass sie jetzt gerade wohl eine Übermittlung in F-14-Code empfangen haben musste. „Was ist geschehen, Ma’am?“, fragte der wache und stets leicht aufgeregte Talaxianer.
Cupernica stand von ihrem Stuhl auf und sagte nur: „Schicken Sie die leichten Fälle nach Hause, Mr. Oxilon! Wir haben einen Notfall!“ Dann ging sie in Richtung der hinteren Räume der Praxis, wo sich die Umkleideräume für das Personal befanden, zog eine Jacke über ihren weißen Kittel, nahm ihren Arztkoffer und war aus der Tür. Oxilons Abnicken ihrer Anweisung hatte sie schon nicht mehr mitbekommen, aber das war auch nicht weiter wichtig für sie gewesen, weil sie dies ohnehin vorausgesetzt hatte. Dann führte Cupernicas Weg sie zu ihrem Jeep, in den sie stieg und mit dem sie dann in Richtung Stadtpark davon brauste.
Huxleys waren auf dem Weg zu einem romantischen Stelldichein. Sie hatten vor, den Tag, an dem sie zusammengekommen waren, eigentlich wie jedes Jahr, auch in diesem Jahr wieder an ihrem Lieblingsplatz im Stadtwald von Little Federation zu feiern. Hierzu hatten sie sich ein Picknick repliziert, das sich in einem Korb auf dem Rücksitz ihres weinroten Jeeps befand, der jetzt leise, weil elektrisch mit Solarstrom betrieben, auf seinem Antriebsfeld, das ihn etwa 20 cm über der Straße schweben ließ, dahin glitt. „Ich finde es sehr gut, dass du es heute mal erübrigen kannst, mit mir einen ganzen Tag zu verbringen, Jinya.“, sagte Jaden und beugte sich zu ihr, die den Jeep fuhr, herüber, um sie zu küssen. Wer Huxleys länger beobachtet hatte und nicht viel über die Natur ihrer Beziehung wusste, konnte meinen, sie würden sich bald scheiden lassen, so oft, wie sie sich stritten. Aber es war wohl so bei ihnen: Sie küssten und sie schlugen sich. Allerdings letzteres Gott sei Dank nur im übertragenen Sinne. „Irgendwann brauche ich ja auch mal einen freien Tag, Jaden.“, gab die Demetanerin ruhig zurück. „Und ich verbringe ihn auch am liebsten mit dir!“
Sie hatte kaum ausgesprochen, als ein Geräusch von ihrem Handgelenk beide aufhorchen ließ. „Sag mir bitte nich’, du hast deinen Pager um.“, sagte Jaden und bekreuzigte sich dreimal, was sonst eigentlich nicht die Art des Amerikaners war, der eigentlich sehr salopp und wie ein typischer Cowboy herüber kam. Sedrins Meinung nach hatte er viel mit Captain Archer gemeinsam, aber sie seiner Meinung nach ebenso viel mit T’Pol. So zog man sich des Öfteren wohl gegenseitig auf. „Tut mir leid, Jineron Terraneron.“, beschwichtigte Sedrin, die jetzt erst merkte, dass sie das Gerät wohl beim Verlassen des Hauses noch schnell angelegt haben musste. „Die Macht der Gewohnheit.“
Sie sah starr auf das Display auf dem Armaturenbrett, denn das Verkehrsaufkommen auf der Landstraße zum Wald war dichter geworden. „Könntest du mal nachsehen, wer da was von mir wollen könnte?“, fragte sie dann in Jadens Richtung. Genervt nickte der Terraner und warf einen Blick auf das Display ihres Pagers. Dann sagte er: „Es ist die Notrufzentrale. Er sagt, das war schon der dritte Versuch.“ „Kelly weiß doch, dass ich frei habe.“, wunderte sich Sedrin. „Was kann so dringend sein, dass sie mich trotzdem anpiept?“ „Was weiß denn ich!“, flapste Jaden.
Wieder ertönte das Signal des Gerätes. „Verdammt, Kelly.“, zischte Sedrin. „Ich kann jetzt nicht reden!“ „Ich bin im Weg, was?“, fragte Jaden. „Dabei solltest du vor mir doch keine Geheimnisse haben. Ich bin Sternenflottenoffizier wie du.“ „Aber du bist kein Geheimdienstler und arbeitest nicht für die Abteilung für feindlichen außerirdischen Einfluss. Auf der Eclypse war die Situation anders, weil …“, erwiderte sie, aber er fiel ihr ins Wort: „Schon kapiert.“, sagte Jaden. „Also gut. Halt bitte bei nächster Gelegenheit an und schmeiß mich raus. Ich finde schon nach Hause. Tja, aus unserem romantischen Picknick wird wohl nichts.“ Sedrin nickte, lenkte den Jeep nach rechts und stoppte ihn am rechten Fahrbahnrand. Dann deutete sie auf die Beifahrertür, die sie vorher per Knopfdruck geöffnet hatte. „Verstehe schon.“, sagte Jaden und stieg aus. Kaum hatte er jedoch das Fahrzeug verlassen, schloss sich die Tür wieder und Sedrin reaktivierte den Antrieb. Der Jeep schnellte herum und raste in Gegenrichtung davon. Für Sedrin, die kein Fahrsicherheitstraining ausgelassen hatte, waren solche Manöver kein Problem. Nur Jaden hatte ihr noch ziemlich irritiert hinterher gerufen: „Jinya, du hast noch unseren Picknickkorb hinten drin!“ Sedrin hatte dies aber wohl völlig ignoriert.
Ihre Fahrt führte die aufgeregte Demetanerin jetzt wieder in Richtung Innenstadt, wo sich das Polizei- und Geheimdienstgebäude befand. Hier stellte sie den Jeep ab und wollte gerade in Richtung Eingang hasten, als sie von einer kleinen zierlichen Gestalt in Agentenuniform aufgehalten wurde, die sie mit Namen ansprach: „Agent Sedrin Taleris-Huxley?“ „Wer will das wissen?!“, fragte Sedrin unwirsch. Erst jetzt drehte sie sich um und musterte die Frau genauer. Sie maß ca. 1,50 m, war von zierlichem Wuchs und hatte kurze schwarze Locken. Sedrin hatte den Eindruck, dass sie gerade erst ihre Prüfung hinter sich hatte. „Mein Name ist Kate Malcovich.“, stellte sie sich mit ihrer hellen sehr lieb klingenden Stimme vor. „Ich bin Ihre neue Partnerin.“ Ach du liebe Zeit!, dachte Sedrin. Da schickt mir Tamara ein halbes Kind!
Die Fremde drehte sich jetzt in Richtung Jeep. „Lassen Sie uns fahren.“, schlug sie vor. „Davis hat mir einen kurzen Abriss gegeben.“ „Also gut.“, sagte Sedrin. Dann stiegen beide Frauen in das Fahrzeug und Sedrin setzte es mit einem Blitzstart in Bewegung. „Also.“, wendete sie sich dann an die neben ihr sitzende Kate. „Zuerst einmal habe ich mich bisher mit all meinen Partnern geduzt und würde das gern bei dir auch so halten, wenn du nichts dagegen hast, Kate.“ „Nein.“, sagte Malcovich schnell. „Das ist ja sowieso so bei dir, weil du Demetanerin bist. Da sind wir auch schon mitten drin. Davis sagt, es gibt einen Notfall im Stadtpark. Es wird außerirdischer Einfluss vermutet. Ob der nun feindlich oder freundlich ist, ließ sich nicht wirklich feststellen. Es sind wohl auch Kinder involviert. Es gibt wohl ein medizinisches Problem. Cupernica ist verständigt. Außerdem gibt es einen demetanischen Zeugen, der wohl kaum Englisch spricht. Melderin ist Allrounder Betsy Scott.“
Sedrin ließ hörbar die Luft aus ihren Lungen entweichen. dann verlangsamte sie auch das Fahrzeug. Die Tatsache, dass bereits eine Sternenflottenoffizierin vor Ort war, musste ihr sehr große Erleichterung verschafft haben. „Hör mal, Kate.“, sagte sie. „Das ist die beste Information, die ich heute bekommen habe. Aber nun mal zu dir. Du bist also meine neue Partnerin?“ Malcovich nickte. Dann sagte sie: „Tamara fand das wohl am besten. Außerdem hörte ich, du hättest schon zwei männliche Partner verschlissen.“ „Ich habe sie nicht verschlissen!“, sagte Sedrin energisch. „Der eine war ein Verräter und der andere mit seinem Beruf hoffnungslos überfordert!“ „Entschuldigung.“, sagte Kate und sah sie beschwichtigend an. „Schwamm drüber.“, beruhigte Sedrin. „Ich weiß ja, was über mich für Gerüchte im Umlauf sind.“